Die Hoffnungen auf einen V-förmigen Aufschwung der Wirtschaft, wie nach der weltweiten Finanzkrise 2008/2009, haben sich nicht erfüllt. Milliardenschwere Konjunktur und Investitionsprogramme haben die Wirtschaft zwar gestützt, konnten aber bislang keine grundlegende Trendwende einleiten. Geringere Unternehmenserträge und mehr Insolvenzen werden zunächst weiterhin das konjunkturelle Bild bestimmen. Finanzielle Engpässe dürften die Handlungsspielräume der öffentlichen Hand auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene zunehmend begrenzen. Damit steigt die Gefahr, dass sich das strukturelle Gefälle zwischen Stadt und Land in den kommenden Jahren weiter verfestigt, wenn nicht sogar verschärft.
Die von der Oldenburgischen IHK gemeinsam mit der Handwerksammer und der Landwirtschaftskammer 2019 gestartete Initiative zur Entwicklung des ländlichen Raums hat daher nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil: Die im Initiativpapier beschriebenen Ziele - gleichwertige Standards in der Daseinsvorsorge, Rahmenbedingungen für Wachstum und Innovation, gute ökonomische, ökologische und sozialverträgliche Entfaltungsmöglichkeiten für heutige und künftige Generationen – gewinnen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen zusätzlich an Bedeutung. Zu diesem Schluss kommt auch das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Die Pandemie setze „die Aktualität gleichwertiger Lebensverhältnisse auf ein neues Level", schreiben die Forscher in einer Analyse zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf dem Land. Teilhabe und Chancengleichheit hätten sich „selten deutlicher im Vorhandensein bzw. im Fehlen von flächendeckender Daseinsvorsorge und Infrastruktur gezeigt".
„Weiter so" oder Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungswirtschaft?
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass ländliche Regionen in einem Bereich besondere Systemrelevanz besitzen: Sie sind als Standorte der Ernährungswirtschaft maßgeblich für die Lebensmittelerzeugung verantwortlich. Das Risiko einer begrenzten Verfügbarkeit von Lebensmitteln – in den vergangenen Jahrzehnten fast vollständig in Vergessenheit geraten – war plötzlich wieder ein großes gesellschaftliches Thema.
Im Oldenburger Land ist nicht nur der Agrarsektor, sondern auch der größte Teil der Lebensmittelverarbeitung im ländlichen Raum konzentriert. Diese Wertschöpfungskette sichert die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung – und sie hat auch während der Krise zuverlässig funktioniert.
Das Coronavirus hat jedoch deutlich gemacht, wie labil die Versorgungsketten letztlich sind. Dr. Ludger Schulze Pals, Chefredakteur der Branchenzeitschrift „top agrar", fordert daher, Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln einem umfassenden Stresstest zu unterziehen. Die Corona-Krise zeige, dass die Versorgungssicherheit in Europa schnell gefährdet sein könnte, wenn plötzlich kein Soja mehr aus Süd- oder Nordamerika importiert werden könnte. Ebenso käme es zu Problemen bei Ernte und Schlachtungen, wenn ausländische Saisonarbeitskräfte und Werkvertragsnehmer nicht mehr einreisen
dürfen.
Eine kritische Betrachtung bestehender globaler Wertschöpfungsketten erscheint umso wichtiger, als dass auch Nachhaltigkeitsaspekte der Lebensmittelproduktion immer stärker in den gesellschaftlichen und politischen Fokus geraten. Unterschiedlich hohe Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales, Tier- und Klimaschutz führen nicht nur zu Wettbewerbsverzerrungen, sondern werden auch von Verbrauchern zunehmend kritisch betrachtet.
Welche Konsequenzen aus diesen Herausforderungen zu ziehen sind, ist nicht einfach und umfassend zu beantworten. Mehr Lagerhaltung könnte zur Stabilisierung der Versorgung beitragen, würde aber nichts an den grundsätzlichen Problemen ändern. Regionalere Wertschöpfungsketten würden internationale Abhängigkeiten verringern. Sie wären aber auch ineffizient, da spezifische Standortvorteile nicht mehr im gleichen Maße durch Arbeitsteilung und Spezialisierung genutzt werden könnten. Daher kann es keine sinnvolle Option sein, den internationalen Handel massiv einzuschränken oder gar komplett einzustellen.
Ziel muss es sein, Rahmenbedingungen für die Agrar- und Ernährungswirtschaft zu schaffen, die eine Nutzung der gegebenen Standortvorteile einzelner Regionen ermöglichen, weltweit Fairness und Nachhaltigkeit in der Wertschöpfungskette Lebensmittel sicherstellen und zugleich eine hohe Versorgungssicherheit gewährleisten.
In Niedersachsen gibt es mit dem Verbund Transformationsforschung Agrar eine etablierte Forschungsgemeinschaft, die praxisnahe Lösungsstrategien für diese Zielsetzung entwickelt. Zum Verbund, der von der Universität Vechta aus koordiniert wird, gehören neben fünf Hochschulen verschiedene zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Vereinigungen – darunter die Oldenburgische IHK.
Mit vier neuen Stiftungsprofessuren entsteht an der Universität Vechta zudem ein Forschungscluster, das sich mit der Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume unter besonderer Berücksichtigung der dort ansässigen Wirtschaftsbereiche befasst. Auch hier ist die IHK als Stifter der Professur „Innovation und Entrepreneurship in ländlichen Räumen" maßgeblich beteiligt.