Wirtschaftsregion

Auf dem Lande steigt der Druck

11.03.2021
Autor*in: Björn Schaeper

In der ersten Phase der Covid-19-Pandemie haben vor allem menschenleere Großstädte das öffentliche und mediale Bild geprägt. Dabei war und ist der ländliche Raum ebenso von der Corona Krise betroffen. Mehr noch: Durch eine schlechtere infrastrukturelle Ausstattung steht er bei der Bewältigung der Krise in vielen Bereichen vor größeren Herausforderungen. Damit steigt der Handlungsdruck, ländliche Regionen in ihrer Entwicklung besser zu unterstützen.

Im Oldenburger Münsterland ist nicht nur der Agrarsektor, sondern auch der größte Teil der Lebensmittelverarbeitung im ländlichen Raum konzentriert. Diese Wertschöpfungskette sichert die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung – und sie hat auch während der Krise zuverlässig funktioniert.

Die Hoffnungen auf einen V-förmigen Aufschwung der Wirtschaft, wie nach der weltweiten Finanzkrise 2008/2009, haben sich nicht erfüllt. Milliardenschwere Konjunktur und Investitionsprogramme haben die Wirtschaft zwar gestützt, konnten aber bislang keine grundlegende Trendwende einleiten. Geringere Unternehmenserträge und mehr Insolvenzen werden zunächst weiterhin das konjunkturelle Bild bestimmen. Finanzielle Engpässe dürften die Handlungsspielräume der öffentlichen Hand auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene zunehmend begrenzen. Damit steigt die Gefahr, dass sich das strukturelle Gefälle zwischen Stadt und Land in den kommenden Jahren weiter verfestigt, wenn nicht sogar verschärft.

Die von der Oldenburgischen IHK gemeinsam mit der Handwerksammer und der Landwirtschaftskammer 2019 gestartete Initiative zur Entwicklung des ländlichen Raums hat daher nichts an Aktualität verloren. Im Gegenteil: Die im Initiativpapier beschriebenen Ziele - gleichwertige Standards in der Daseinsvorsorge, Rahmenbedingungen für Wachstum und Innovation, gute ökonomische, ökologische und sozialverträgliche Entfaltungsmöglichkeiten für heutige und künftige Generationen – gewinnen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen zusätzlich an Bedeutung. Zu diesem Schluss kommt auch das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Die Pandemie setze „die Aktualität gleichwertiger Lebensverhältnisse auf ein neues Level", schreiben die Forscher in einer Analyse zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf dem Land. Teilhabe und Chancengleichheit hätten sich „selten deutlicher im Vorhandensein bzw. im Fehlen von flächendeckender Daseinsvorsorge und Infrastruktur gezeigt".

„Weiter so" oder Neuausrichtung der Agrar- und Ernährungswirtschaft?

Die Corona-Krise hat gezeigt, dass ländliche Regionen in einem Bereich besondere Systemrelevanz besitzen: Sie sind als Standorte der Ernährungswirtschaft maßgeblich für die Lebensmittelerzeugung verantwortlich. Das Risiko einer begrenzten Verfügbarkeit von Lebensmitteln – in den vergangenen Jahrzehnten fast vollständig in Vergessenheit geraten – war plötzlich wieder ein großes gesellschaftliches Thema.

Im Oldenburger Land ist nicht nur der Agrarsektor, sondern auch der größte Teil der Lebensmittelverarbeitung im ländlichen Raum konzentriert. Diese Wertschöpfungskette sichert die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung – und sie hat auch während der Krise zuverlässig funktioniert.

Das Coronavirus hat jedoch deutlich gemacht, wie labil die Versorgungsketten letztlich sind. Dr. Ludger Schulze Pals, Chefredakteur der Branchenzeitschrift „top agrar", fordert daher, Produktion, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln einem umfassenden Stresstest zu unterziehen. Die Corona-Krise zeige, dass die Versorgungssicherheit in Europa schnell gefährdet sein könnte, wenn plötzlich kein Soja mehr aus Süd- oder Nordamerika importiert werden könnte. Ebenso käme es zu Problemen bei Ernte und Schlachtungen, wenn ausländische Saisonarbeitskräfte und Werkvertragsnehmer nicht mehr einreisen
dürfen.

Eine kritische Betrachtung bestehender globaler Wertschöpfungsketten erscheint umso wichtiger, als dass auch Nachhaltigkeitsaspekte der Lebensmittelproduktion immer stärker in den gesellschaftlichen und politischen Fokus geraten. Unterschiedlich hohe Standards in den Bereichen Umwelt, Soziales, Tier- und Klimaschutz führen nicht nur zu Wettbewerbsverzerrungen, sondern werden auch von Verbrauchern zunehmend kritisch betrachtet.

Welche Konsequenzen aus diesen Herausforderungen zu ziehen sind, ist nicht einfach und umfassend zu beantworten. Mehr Lagerhaltung könnte zur Stabilisierung der Versorgung beitragen, würde aber nichts an den grundsätzlichen Problemen ändern. Regionalere Wertschöpfungsketten würden internationale Abhängigkeiten verringern. Sie wären aber auch ineffizient, da spezifische Standortvorteile nicht mehr im gleichen Maße durch Arbeitsteilung und Spezialisierung genutzt werden könnten. Daher kann es keine sinnvolle Option sein, den internationalen Handel massiv einzuschränken oder gar komplett einzustellen.

Ziel muss es sein, Rahmenbedingungen für die Agrar- und Ernährungswirtschaft zu schaffen, die eine Nutzung der gegebenen Standortvorteile einzelner Regionen ermöglichen, weltweit Fairness und Nachhaltigkeit in der Wertschöpfungskette Lebensmittel sicherstellen und zugleich eine hohe Versorgungssicherheit gewährleisten.

In Niedersachsen gibt es mit dem Verbund Transformationsforschung Agrar eine etablierte Forschungsgemeinschaft, die praxisnahe Lösungsstrategien für diese Zielsetzung entwickelt. Zum Verbund, der von der Universität Vechta aus koordiniert wird, gehören neben fünf Hochschulen verschiedene zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Vereinigungen – darunter die Oldenburgische IHK.

Mit vier neuen Stiftungsprofessuren entsteht an der Universität Vechta zudem ein Forschungscluster, das sich mit der Zukunftsfähigkeit ländlicher Räume unter besonderer Berücksichtigung der dort ansässigen Wirtschaftsbereiche befasst. Auch hier ist die IHK als Stifter der Professur „Innovation und Entrepreneurship in ländlichen Räumen" maßgeblich beteiligt.

Die Corona-Krise zeigt auch, wie eng die Lieferpässe nach Europa würden, wenn plötzlich beispielsweise kein Soja mehr aus Süd- oder Nordamerika importiert werden könnte.

Pandemie wird Digitalisierungs-Turbo

Die Corona-Krise wirkt wie ein Digitalisierungs-Turbo. Arbeiten im Home-Office ist für viele zum Standard geworden. Wer weiter im Büro oder im Unternehmen vor Ort arbeitet, setzt verstärkt auf digitale Kommunikation, um persönliche Kontakte zu minimieren. Veranstaltungen und Sitzungen finden online statt. Die Arbeit in zum Teil virtuell vernetzten Teams verändert Prozessabläufe, Führungsaufgaben und Organisationsstrukturen. Kontaktloses und bargeldloses Zahlen hat massiv an Bedeutung gewonnen, der Onlinehandel vermeldet neue Rekorde. Nicht nur stationäre Einzelhändler, Gastronomiebetriebe und Dienstleister, auch viele weitere Unternehmen haben in kürzester Zeit digitale Kanäle zu ihren Kunden geschaffen. Die Corona-Krise macht den großen Rückstand bei der Digitalisierung der Verwaltung offenkundig und zeigt zugleich, welche Vorteile digitale Prozesse haben: Anträge können jederzeit ortsunabhängig gestellt und auch bearbeitet werden – ganz ohne Ansteckungsgefahr. Bearbeitungsschritte lassen sich nebenbei automatisieren und beschleunigen.

Im ländlichen Raum wird damit immer deutlicher, welche enorme Bedeutung eine erfolgreiche Digitalisierung für die regionale Entwicklung hat. Viele spezifische Herausforderung ländlicher Regionen lassen sich mit digitalen Lösungen bewältigen. Digitale Techniken erleichtern die Überwindung von Distanzen und können so dazu beitragen, Standortnachteile gegenüber Ballungsräumen auszugleichen. Dies betrifft nahezu alle Lebensbereiche: die Daseinsvorsorge, die Gestaltung der Arbeitswelt, die Versorgung mit Produkten und Dienstleistungen sowie generell die Geschäftsmodelle von Unternehmen.

Ob diese Chancen realisiert werden können, steht und fällt mit der digitalen Infrastruktur. Ohne eine zukunftsfähige, flächendeckende Breitbandversorgung droht sich die Schere zwischen Stadt und Land weiter zu öffnen.

Die schnelle Umstellung auf digitale Techniken und Abläufe bedeutet für viele Organisationen und Systeme einen enormen Belastungstest. Die digitale Transformation wäre auch ohne Pandemie weiter vorangeschritten, aber sicher nicht in dem aktuellen Tempo. Die Krise sorgt in vielen Unternehmen für ein Umdenken: Erst jetzt wird wirklich klar, welche Risiken das Fehlen eine Digitalstrategie für das wirtschaftliche Überleben mit sich bringt.

Vieles spricht also dafür, dass der digitale Wandel durch die Krise einen nachhaltigen Schub bekommt und wir nicht wieder auf den Status quo ante zurückfallen. Umso wichtiger ist es, im ländlichen Raum die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Chancen der Digitalisierung effektiv nutzen zu können. Dazu gehört auch die Unterstützung bei der Planung, Entwicklung und Anwendung digitaler Lösungen sowie die Förderung der Vernetzung aller relevanten Akteure untereinander.

In diesem Kontext spielen Hochschulen, wissenschaftliche Einrichtungen wie das Oldenburger OFFIS-Institut oder neue Netzwerke wie das ebenfalls in Oldenburg angesiedelte Zentrum für digitale Innovationen Niedersachsen (ZDIN) eine wichtige Rolle. In diesen Institutionen sind personelle, fachliche und organisatorische Ressourcen vorhanden, um digitale Lösungen für ländliche Regionen zu entwickeln – Ressourcen, die in den meisten mittelständischen Betrieben nicht vorgehalten werden können.

Wichtig ist es, solche Lösungen in enger Abstimmung und Kooperation mit Unternehmen zu entwickeln, um die Praxistauglichkeit sicherzustellen und eine schnelle Ausbreitung gerade im ländlichen Raum zu ermöglichen. Um die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Hochschulen und weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen zu stärken, hat die IHK die Kommission Wirtschaft-Wissenschaft einberufen. Die Kommission koordiniert ein Bündel an Maßnahmen, um den Wissenstransfer zu fördern und damit die Innovationsfähigkeit der regionalen Unternehmen auszubauen.

Krise als Chance

Megatrends wie der digitale, der demographische und der klimatische Wandel laufen im Hintergrund der Corona-Krise weiter und werden im ländlichen Raum zunehmend spürbar. Deshalb gilt es, ländliche Räume mutig und entschlossen weiterzuentwickeln, damit sie als symbiotische Regionen zu urbanen Agglomerationen Bestand haben. Dafür kann die Krise ein Chance sein, wie auch das SOFI feststellt. Vieles spreche dafür, dass in der Corona-Krise der ländliche Raum neu entdeckt wird – „nicht nur als Nutzfläche für die Versorgung der Städte, sondern als Ort der Innovation für Wirtschaft und Gesellschaft."

Autor Björn Schaeper ist Geschäftsführer für die Bereiche Wirtschaftspolitik, Innovation, Energie und Umwelt bei der Oldenburgischen Industrie- und Handelskammer.

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