Schneidern aus Leidenschaft

Einzelstücke mit Seele

Wenn Anna Meyer von ihrem Beruf erzählt, spürt man die Leidenschaft in jedem Satz. Die 32-Jährige schätzt die Präzision, die ihr Handwerk erfordert.

EMPATHIE Bei den Anproben achtet Anna Meyer nicht nur darauf, dass jede Naht perfekt sitzt. Sie möchte auch den Menschen hinter dem Auftrag kennenlernen.

„Bei einem Kleid oder einer Bluse kann man mit viel Stoff und aufregenden Mustern von kleinen Verarbeitungsfehlern ablenken", erklärt sie. „Ein Sakko hingegen ist zurückgenommen und klassisch. Dadurch liegt der Fokus mehr auf den Details, jeder Makel fällt sofort ins Auge."

Ihren Traumberuf hatte die Löningerin schon früh gefunden. Umso glücklicher war sie, als sie 2009 am Oldenburgischen Staatstheater eine Ausbildungsstelle zur Herrenschneiderin ergatterte. Es folgten Gesellenjahre am Bremer Theater am Goetheplatz und die Meisterschule in Hamburg. 2019 eröffnete sie in der Hansestadt das Atelier Biedermeyer.

NATURNÄHE Anna Meyers lichtdurchflutetes Atelier liegt mitten im Grünen.

Seit sechs Jahren ist Anna Meyer außerdem festes Mitglied in der Kostümabteilung der Bayreuther Festspiele. Zunächst als Schneiderin, dann als Herrengewandmeisterin kehrt sie jedes Frühjahr für drei Monate in das 30-­köpfige Team nach Bayreuth zurück. „Es ist eine anstrengende, arbeitsintensive Zeit, aber am Ende das Resultat auf der großen Bühne zu sehen, ist schon etwas Besonderes", sagt Anna. Und auch ihr Handwerk muss sie in dieser Zeit neu denken. Ein Bühnenoutfit muss anderen Belastungen standhalten als ein Alltagsanzug. „Der Kragen hat mehr Luft, damit die Sänger sich nicht eingeengt fühlen. Manche atmen in den Bauch, andere in die Brust. Auch das beeinflusst den Schnitt", erklärt die erfahrene Schneiderin. Und dann sind da noch die fantasievollen Details. Zum Beispiel Flügel, die im Kampf zu Boden ­fallen. „So etwas zu entwerfen, macht unglaublich viel Spaß."

Dass sie irgendwann zurückkommen würde, wusste Anna Meyer schon immer.

Anfang 2021 wagt Anna Meyer einen großen Schritt. Sie verlässt Hamburg und zieht nach zwölf Jahren zurück in ihre Heimat ­Löningen. Ihre Familie betreibt hier den Hof am Kolk, mit klassischer Landwirtschaft, einem Hofladen, mobiler Käserei und Platz für 65 Feriengäste. Ein schmaler Pfad führt vom Haupthaus zum neu gebauten Atelier, das eingerahmt von hohen Bäumen in einer ruhigen Ecke des Hofs liegt. Ihre Nähmaschine hat Anna Meyer direkt an eines der großen Fenster gestellt, mit Blick ins Grüne. Vor allem am frühen Morgen arbeitet sie hier gern.

Dass sie irgendwann an den Ort ­ihrer Kindheit zurückkehren würde, wusste Anna Meyer schon immer. Sie schätzt die Ruhe des Landlebens, lange Spaziergänge durch die endlosen Wiesen und Felder rund um den Hof lassen sie neue Kraft schöpfen. Und doch war der Rückzug nach Hause ein langer Prozess, ganz angekommen ist Anna noch immer nicht. „Nach so langer Zeit wieder hier zu sein und die eigene Rolle zu finden, ist herausfordernd", findet sie. „Ich möchte nicht mehr nur Tochter und Familienmitglied, sondern eigenständige Mitwirkende auf dem Hof sein."

SINNESWANDEL Vor 20 Jahren war die Herrenschneiderei noch stark von Männern dominiert. Heute erlernen immer mehr Frauen dieses traditionelle Handwerk.

Gut Ding will Weile haben

Für einen dreiteiligen Maßanzug veranschlagt Anna Meyer etwa 2.700 Euro Arbeitslohn, hinzu kommen die Kosten für Stoffe und weiteres Arbeitsmaterial. Inzwischen stehen die Preise auch auf ihrer Website. Das war nicht immer so: „Am Anfang fand ich das eher unüblich. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, wie sehr die Menschen den Bezug zu echter Handarbeit und den damit verbundenen ­Kosten verloren haben." Allein in einem Sakko stecken etwa 50 Arbeitsstunden. Traditionelles Handwerk braucht eben seine Zeit.

 

In Hamburg hat sie weiterhin einen Raum für Beratungen und Anproben. Alle zwei ­Wochen trifft sie hier Kunden und kostet das Großstadtleben aus, das sie im beschaulichen Löningen manchmal vermisst. Einer ihrer Kunden besuchte sie für eine Anprobe sogar bereits in ­ihrem neuen, alten Zuhause. Dass sie dafür nun nicht mehr in die Werkstatt kommen, den ­Ursprung allen Zaubers, bedauern die Männer nämlich ein wenig.

Ihre Kunden suchen das Besondere, ein Einzelstück. Manche kommen mit genauen Vorstellungen ins Atelier Biedermeyer, mögen etwa den Retrostil. Durch ihre Zeit am Theater hat Anna einen guten Blick für besondere Schnitte, die man nicht von der Stange bekommt. Inspiration zieht sie auch aus historischen Fernsehserien. „Ich liebe es, das Kostümbild zu studieren und mir Stoffe, Schnitte und Farben genau anzuschauen."

Jeder Auftrag bringt eine eigene, spannende Geschichte mit.

Tatsächlich, an einem vermeintlich simplen Kleidungsstück kann Anna Meyer eine ganze Wissenschaft aufmachen. Es geht um Balancen, das Verhältnis von Vorderlänge zu Rückenlänge – alles muss im Gleichgewicht sein. „Jeder Körper ist schließlich anders", sagt sie. „Das macht jede Anprobe aufs Neue aufregend."

PRÄZISION Bei der Arbeit ist jede Menge Fingerspitzengefühl gefragt.

Damit ein Anzug am Ende nicht nur optisch gefällt, sondern auch perfekt sitzt, sind drei Anproben nötig. Jede Menge Zeit also, um den Kunden kennenzulernen. „Man baut schon eine gewisse Beziehung zueinander auf. Ich erfahre, warum mein Kunde eine Maßanfertigung wünscht. Um das passende Stück zu kreieren, muss ich auch den Menschen dahinter verstehen. Was für ein Typ ist er? Was ist ihm wichtig?" Ihre Kunden schätzen den direkten Kontakt zur Schöpferin ihrer Einzelstücke, denn sie kaufen bewusster ein als die meisten.

Jeder Auftrag, den Anna Meyer in ihrer Berufslaufbahn erfüllen durfte, bringt eine ­eigene Geschichte mit. Einige bleiben ihr besonders im Gedächtnis. Im letzten Jahr fertigte sie ein ­Sakko aus einem Stoff, den die Freundin des Auftraggebers selbst gewebt hatte. „Das hat dem Stück noch einmal eine ganz andere Wertigkeit gegeben und war auch für mich eine völlig neue Erfahrung."

www.biedermeyer.com

BEGLEITERIN Ihre Nähmaschine aus den 1950ern besitzt Anna Meyer seit der Ausbildung.