Hochdekorierte Wissenschaftler:innen

Der Nobelpreis geht an …

Lastrup? Nein, die kleine Gemeinde im Landkreis Cloppenburg macht nicht täglich globale Schlagzeilen. Doch wer in Madrid, Paris oder New York im Dezember 2020 in die örtlichen Tageszeitungen schaute, dürfte seitdem tatsächlich wissen, wo Lastrup liegt: in Baja Sajonia, Basse-Saxe bzw. Lower Saxony.

BIONTECH Mit dem Corona-Impfstoff in die Geschichtsbücher.

In Niedersachsen also. An eine Übersetzung der ein wenig präziseren Ortsbestimmung ­Oldenburger Münsterland wagten sich die spanischen, französischen und amerikanischen Journalist:innen allerdings doch nicht heran.

Dabei ging es in ihren Artikeln ausnahmslos um Özlem Türeci. Spätestens, seit sie mit ihrem Mann Ugur Şahin den ersten von der ­Weltgesundheitsorganisation zugelassenen Impfstoff gegen das Corona-­Virus entwickelt hat, ist die 1967 in Lastrup geborene Wissenschaftlerin eine ­weltweite Berühmtheit. Ihre Eltern waren aus Istanbul nach Deutschland gekommen, der Vater war als Chirurg am St. Elisabeth-Stift beschäftigt und führte zudem eine Praxis für Allgemeinmedizin. Die kleine Özlem besuchte in Lastrup Grundschule und Orientierungsstufe und schaute ihrem Vater so oft wie möglich bei seiner Arbeit über die Schultern.

ÖZLEM TÜRECI Aus Lastrup auf die große Weltbühne.

Schon damals habe sie helfen wollen, sagte Türeci 2011 in einem Interview. Es war die Zeit, als die Medien erstmals auf die Wissenschaftlerin aufmerksam wurden, die sich anschickte, mit der zehn Jahre zuvor gegründeten Ganymed Pharmaceuticals die Biotechnologie-Szene aufzumischen. Ihr Ziel: die Entwicklung eines ebenso wirksamen wie sanften Medikaments gegen Krebs.

„Ich will helfen", sagte Özlem Türeci schon in ihren jungen Jahren in Lastrup.

1980 zog die Familie nach Nordrhein-Westfalen um. Zum Medizinstudium ging es für Özlem Türeci weiter ins saarländische Homburg, wo sie auch ihren späteren Mann kennenlernte. Heute ist ihr gemeinsames Unternehmen Biontech in Mainz ansässig – und beschert der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt ein üppiges Gewerbesteuerpräsent. Die frühen Jahre in Lastrup gerieten dagegen peu à peu in Vergessenheit.

Marco Beeken beobachtet die ­Karriere Türecis mit großer Aufmerksamkeit. Der Cloppenburger hat an der Universität Osnabrück einen Lehrstuhl für die Didaktik der Chemie inne und gilt als Spezialist in Sachen Wissenschaftskommunikation. Er sagt: „Vieles in der Forschung beruht auf dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Deshalb muss man gerade jungen Menschen die Möglichkeiten geben, sich immer wieder aufs Neue zu erproben."

Im Oldenburger Münsterland gibt es dafür gute Voraussetzungen. So tragen etwa das Copernicus-Gymnasium in Löningen und das Antonianum Vechta das Prädikat „MINT-freundliche Schule". Unter dem Kürzel MINT werden die Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zusammengefasst. Die Vermittlung von Fähigkeiten und Kenntnissen in den MINT-Fächern befähigt Jugendliche zu einer qualifizierten Teilhabe an Diskussionen zu naturwissenschaftlich-technischen Themen und bietet ihnen hervorragende Perspektiven.

FRÜH ÜBT SICH Die Schulen in der Region sind in den MINT-Fächern hervorragend aufgestellt.

Dass durchaus renommierte Forschende einen Bezug zum Oldenburger Münsterland haben, hält Beeken einerseits „für einen schönen Zufall", andererseits betont er aber auch: „Der Funke springt in der Schule über. Und in dieser Hinsicht war und ist unsere Region hervorragend und geradezu vorbildlich aufgestellt." Bildung werde hier „grundsätzlich als wichtige Säule der gesellschaftlichen Weiterentwicklung" betrachtet.

Beispiele finden sich auch in Damme und Lohne. Das Gymnasium Damme gehört zu den wenigen MINTec-Schulen in Niedersachsen. Es handelt sich dabei um ein nationales Exzellenz-Netzwerk, das ausgewählte Leuchtturm-Schulen bei ihrer Entwicklung zu MINT-Talentschmieden umfasst. Bei der Ketteler-Schule in Lohne setzt man den Hebel sogar noch früher an. Gemeinsam mit den Kindergärten St. Barbara, St. Michael und „Die Großen Strolche" wurde ein Modellprojekt zur Technikförderung von Kindern gestartet.

Es ist also nie zu früh, um mit dem Forschen zu beginnen. Das bestätigt auch Harald zur Hausen. Dem 1936 in Gelsenkirchen Geborenen, der sein Abitur am Antonianum in Vechta machte, wurde 2008 der Medizin­nobelpreis zuerkannt. Und der Wissenschaftler macht auch jenen Mut, die anfangs fürchten, das werde ja doch nichts. Ihm ist es nämlich nicht anders ergangen. Am Ende der ersten Klasse auf dem Gymnasium stand im Zeugnis die Bemerkung „Versetzung nur mit großem Bedenken". 60 Jahre später hielt der Schüler von einst die wichtigste Wissenschaftsauszeichnung der Welt in Händen.

HARALD ZUR HAUSEN Der spätere Nobelpreisträger machte in Vechta sein Abitur.

Zur Hausens Vorliebe galt den Fächern Biologie und Chemie. In der Freizeit las er Biografien von Forschungspersönlich­keiten. Insbesondere die ­Lebensgeschichte von Robert Koch habe ihn beeindruckt, sagte er einmal. Mit dem Religionsunterricht fremdelte er hingegen. Vor allem der Widerspruch zwischen dem, was dort gelehrt wurde, und dem, was er in den Naturwissenschaften erfuhr, habe ihn regelrecht herausgefordert.

Nach dem Abitur entschied sich zur Hausen, gleichzeitig Biologie und Medizin zu studieren. Nach sieben Semestern merkte er, dass er sich zu viel zumutete, und gab das Biologiestudium auf. Der Entschluss fiel ihm offenbar nicht sonderlich schwer, denn der Unterricht an den Universitäten sei damals einfach schlecht" gewesen, erinnert er sich. Den folgenden ersten Versuch, eine Doktorarbeit am Hamburger Tropeninstitut zu schreiben, brach er vorzeitig ab. Er sollte Amöbenzysten im Stuhl von Affen zählen, was er als unsinnig empfand.

ALFRED NOBEL Der schwedische Erfinder stiftete 1901 den nach ihm benannten Wissenschaftspreis.

Der Preis der Preise

Beim Nobelpreis handelt es sich um die wichtigste Wissenschaftsauszeichnung der Welt. Sie ist nach dem schwedischen Erfinder Alfred Nobel benannt und wird seit 1901 jährlich am 10. Dezember in den Kategorien Physik, Chemie, Literatur sowie Physiologie oder Medizin in Stockholm verliehen. Seit 1968 gibt es zudem den Preis in der Kategorie Wirtschaft. Der Friedensnobelpreis wird in Oslo übergeben.

 

Am Institut für Mikrobiologie in Düsseldorf gefiel es ihm besser, auch wenn das neue Thema nicht minder skurril klang: Bohnerwachs. Zur Hausen stellte fest, dass bestimmte Sorten Tuberkelbakterien abtöten, wenn sie in Tuberkuloseheilstätten mit ultraviolettem Licht bestrahlt werden. Fazit des Forschers: „Ich schäme mich in keiner Weise für diese Doktorarbeit."

Nächste Stationen auf der Karriereleiter waren das Institut für Virologie der Universität Würzburg und der Lehrstuhl für Virologie der Universität Freiburg. 1983 übertrug das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg dem Mediziner seine Leitung. Bis zu seinem Ausscheiden zwanzig Jahre später entwickelte es sich zu einem der führenden Krebsforschungszentren der Welt. Den Nobelpreis erhielt er für den Nachweis, dass Gebärmutterhalskrebs durch Virusinfektionen ausgelöst wird. Damit legte er die Grundlagen für die Entwicklung eines Impfstoffs.

ENTWICKLUNG Bildung wird im Oldenburger Münsterland als wichtige Säule der gesellschaftlichen Weiterentwicklung betrachtet.

Für diejenigen, die in jungen Jahren in die Forschung einsteigen, hält der hochgeschätzte Wissenschaftler einen Tipp bereit: um die Ecke denken! Es sei „falsch und bequem, sich mit bestehenden Dogmen abzufinden". Man dürfe nicht alles akzeptieren, auch dann nicht, wenn es als fester Bestandteil der Wissenschaft gilt. Dieses Vorgehen hat jedoch einen Pferdefuß: „Man muss dann damit rechnen, dass man noch mehr arbeiten muss."

Als Vorbild für den Wissenschaftsnachwuchs von heute taugt neben Harald zur Hausen auch Klaus von Klitzing. Der spätere Nobelpreisträger wurde 1943 in Schroda im heutigen Polen geboren. Aus der Heimat vertrieben flüchtete seine Familie zwei Jahre später nach Lutten im Landkreis Vechta. Später ging es über Oldenburg weiter nach Essen (Oldb.).

 

KLAUS VON KLITZING Aufgewachsen im Oldenburger Münsterland wurde der Wissenschaftler 1985 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt.

Nachdem er 1962 in Quakenbrück sein Abitur gemacht hatte, zog es Klaus von ­Klitzing zum Physikstudium an die Technische Universität Braunschweig. Er schloss es mit dem Diplom ab. Danach ging es weiter in den Süden Deutschlands. An der Julius-­Maximilians-Universität Würzburg schrieb er seine Doktorarbeit. Nach Zwischenstopps in Oxford und Grenoble wurde von Klitzing auf eine Professur an die TU München berufen. 1985 schließlich wechselte er ans Max-Planck-Institut für Festkörperforschung nach Stuttgart.

Von Klitzings herausragende Leistung bestand in der Entdeckung des sogenannten Quanten-Hall-Effekts, die ihm im ­F­­­ebruar 1980 im Grenobler Hochfeld-Magnetlabor gelungen war. Er hatte nachgewiesen, dass sich der elektrische Widerstand nicht nur über Variablen wie Stromstärke und Spannung definieren lässt, sondern auch über Naturkonstanten. Diese Erkenntnis beflügelt bis heute die Mikroelektronik und Informationstechnologien. Dem Forscher wurde dafür 1985 in Stockholm der Nobelpreis für Physik verliehen.

WISSENSERWERB Wer lange Zeit in der Wissenschaft tätig ist, weiß: Die krampfhafte Suche nach Anwendungsoptionen kann häufig hinderlich sein.

Wie Özlem Türeci ist auch Klaus von Klitzing Mitglied der Hall of Fame der Deutschen Forschung. Trotz aller Verdienste ist der inzwischen 79-Jährige angenehm bodenständig geblieben. Für ihn ist die Neugier die treibende Kraft, die einen Forscher nicht ruhen lässt. Man dürfe nicht immer gleich nach Anwendungsoptionen fragen. Wichtiger sei es „zunächst Wissen zu erwerben und dann erst zu fragen, wofür wir es einsetzen können". Also los!