„Ich war völlig überrascht", bekennt Jens Südekum, Professor an der Universität Düsseldorf. „Statistisch ist die Region ein absoluter Ausreißer", erklärt der Spezialist für Regionalökonomie. Denn der Boom erfolgt im Oldenburger Münsterland gegen alle Regeln und Annahmen. Jobs entstehen ansonsten meist dort, wo es zum Beispiel viele akademisch Ausgebildete oder eine starke Dienstleistungsbranche gibt. Doch das gilt weder für Vechta noch für Cloppenburg. Die Zuwächse verdanken sie vielmehr Branchen wie der Kunststoffindustrie, Fleischwirtschaft und Logistik.
Religion und Autobahn, Mentalität und Moor
Südekum und seine Forscherkollegen ermittelten, dass die Beschäftigung im Kreis Vechta zwischen 1978 und 2014 um rund 150 Prozent gewachsen ist. Im benachbarten Landkreis Cloppenburg hat sich die Zahl der Jobs, gemessen an Vollzeitstellen, mehr als verdoppelt. Diese Statistik stützt das Ergebnis weiterer Befunde, denen zufolge im Oldenburger Münsterland vieles anders läuft. Dort werden der Wirtschaft auch für die kommenden Jahrzehnte beste Aussichten bescheinigt. Und während die Jungen andernorts aus ländlichen Gebieten abwandern und der Nachwuchs ausbleibt, werden in den beiden niedersächsischen Landkreisen mit die meisten Kinder in Deutschland geboren. Ein Landstrich mit Perspektive.
Das Oldenburger Münsterland war vor einem halben Jahrhundert noch bettelarm. Jetzt liegen die Wachstumsraten der mittelständisch geprägten Wirtschaft weit über dem Durchschnitt der Republik. Woher also kommt der Boom? In der Region selbst glaubt man: Es hat etwas mit der Religion und der Autobahn, mit der Mentalität und dem Moor zu tun. Beginnen wir mit der Religion: Der katholische Landstrich bildet eine konfessionelle Insel im protestantisch geprägten Norden.
Vom Fahrrad aus Hühner verkauft
Isoliert war man wegen der weiten Moorflächen auch geografisch. Das änderte sich mit der Ende der sechziger Jahre fertiggestellten Autobahn A1. Die Verkehrsanbindung hat den tiefgreifenden Strukturwandel entscheidend mit angeschoben, glaubt Dirk Gehrmann. Der Leiter der Wirtschaftsförderung des Kreises Vechta sieht außerdem eine spezielle Mentalität: Durch die Abgeschiedenheit war man es gewohnt, die Dinge selbst oder mit Hilfe der Nachbarn in die Hand zu nehmen.
Die meisten der mittelständischen Erfolgsgeschichten aus der Region beginnen in der Nachkriegszeit: Der Gründer des Wiesenhof-Konzerns fuhr mit dem Fahrrad über Land und verkaufte Hühner, der des heutigen Feinkost-Imperiums Wernsing mischte den Kartoffelsalat zunächst in der Badewanne. Ein Unternehmen wie Nordfolien startete 1967 mit Verpackungen für Torf und belieferte später die Chemie-Riesen des Landes. Ein weiteres Beispiel: Pöppelmann aus Lohne beschäftigt heute mehr als 2.000 Mitarbeiter. Die Firma ging aus einer 1949 im Hühnerstall gegründeten Korkenfabrik hervor. Der Einstieg in die Kunststoffverarbeitung gelang mittels einer Kappe auf dem Korken, der sich bei Spirituosen etablierte.
Die Tiefe der Wertschöpfung
„Viele Firmen, die in der Region seit den fünfziger Jahren klein begonnen haben, sind in Nischen auf dem Weltmarkt groß geworden" sagt Südekum. Viele dieser Nischen haben direkt oder indirekt mit der Ernährungswirtschaft zu tun, auch wenn aktuell nur noch 3,3 Prozent der Beschäftigten im Landkreis Vechta in der Land- und Forstwirtschaft tätig sind.
Entscheidend ist vielmehr die Tiefe der Wertschöpfung, wie in der Studie „Deutschland 2030 – die Arbeitsplätze der Zukunft" betont wird: „Die in den Landkreisen Vechta, Cloppenburg und Emsland fest verwurzelte Nahrungsmittelindustrie deckt von der Erzeugung von Futtermitteln über die Tierzucht bis hin zur Verarbeitung und Vermarktung die gesamte Wertschöpfungskette ab."
Auch langfristig beste Perspektiven
In der von Pricewaterhouse Coopers und dem Hamburger Weltwirtschaftsinstitut veröffentlichten Studie wird bis 2030 nur in sechs Landkreisen ein Beschäftigungs-Plus von mehr als 7,5 Prozent erwartet. Zwei davon sind Vechta und Cloppenburg. Geht der Boom also immer weiter? Südekum hält es durchaus für möglich, dass das Oldenburger Münsterland seinen Erfolgsweg so atypisch fortsetzen kann. Zumindest wenn es gelingt, genügend Fachkräfte in der Gegend zu halten oder zu gewinnen: „Sonst hat die Region in zehn oder zwanzig Jahren ein Problem."
Was es nicht leichter macht: „In den vergangenen fünf bis zehn Jahren verstärkt sich das Phänomen, dass junge, gut Ausgebildete wieder in die Großstadt wollen", sagt Südekum. Umgekehrt heißt das aus Sicht von qualifizierten Arbeitssuchenden: Das Oldenburger Münsterland bietet langfristig beste Perspektiven.