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30 Jahre ganz, ganz Bitter

26.02.2025
Autor: Holger Karkheck

Wenn man den Prototyp eines Werbers treffen möchte, dann fährt man … besser nicht nach Calveslage. Dort sitzt, zwischen eiche-rustikaler Wandvertäfelung und John-Wayne-Pappfigur: Christian Bitter. In einem Büro mit schusssicherer Fensterscheibe. Die Stimme geräuchert, das Hemd lässig aus der Hose. Letzteres gern großkariert, kleinkariert sind andere.

Reklame-Routinier Christian Bitter, so lässig und leichtfüßig wie vor 30 Jahren: Und auch irgendwie noch mit den gleichen Flausen im Kopf. Nur die Flusen auf dem Kopf sind grauer geworden.

Auch jobtechnisch. Christian Bitter ist seit 30 Jahren Überbringer der guten Nachricht. Als er 1994 im Rathaus von Vechta seine Werbeagentur anmeldet, sitzt im Reklamefernsehen noch die biedere Dauerwelle trotz Windstärke zehn.

Chrise-Kommunikation

Taff? Jupp, ist auch Christian, der bis dato festangestellte Familienvater. 30 Mark investiert er in sein Bitter-Business, so viel kostet die erste Amtshandlung. Es ist der 30. März 1994. „Denn man tau“, sagt die Formularfrau im Gewerbeamt, halb ermutigend, halb mitleidig. Was sie nicht ahnt: Irgendwie ist das auch gleich der passende Claim für die Agentur.

Christian Bitter, den eigentich alle nur Chrise nennen, macht fortan „man tau“. 32 Jahre ist er alt. Hat zuvor in Düsseldorf für American Express und Ford als Werbetexter gearbeitet. Als Schreibmaschine mit Schreibmaschine quasi. Und zuletzt den sicheren Job als Ressortleiter bei der Oldenburgischen Volkszeitung gekündigt. „Ich habe gemerkt, dass es eine kleine Agentur für den Mittelstand schlichtweg nicht gab“, sagt Chrise heute.

Großvieh macht schließlich auch Mist

Die Großen der Branche entwickeln zu der Zeit musikalische Werbung für eine Burger-Kette („Einfach gut“). Chrise fängt ganz vorne an … in der Lieferkette: bei den Gallowayrindern von Graf von Merveldt. Die brauchen damals ein neues Logo. „Logo, kann ich!“, sagt Chrise. Großvieh macht schließlich auch Mist. Die Kundschaft steht Schlange. Und was macht der kreative Werber daher: Erstmal einen Leitz-Ordner anlegen. Kundenmanagement ist ja auch wichtig.

Reklame-Revoluzzer mit Ordner-Drang

Sein Büro ist zu Hause, zwischen Frau und Kindern. Die räumliche Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelingt so lala. Für 2.900 Mark kauft sich der Reklame-Revoluzzer einen Macintosh-Computer mit Neun-Zoll-Bildschirm. Dazu einen Laser-Drucker für 4.000 Mark. Und natürlich ein Fax-Gerät nebst Leitz-Locher. Bei Bitter klopft Malermeister Mönnig an, der seinen Handwerkerbus neu bekleben lassen will. Ein gewisser Stefan Niemeyer braucht Ideen-Futter für seine Futter-Firma Miavit. Und Thomas Roess vermarktet Rollrasen an Wüstenscheichs mithilfe von Bitters Büro. Die Chrise-Kommunikation füllt eine Marketing-Marktlücke. Geschäftsleute aus dem Oldenburger Münsterland sind froh, fortan nicht mehr extra eine teure Agentur in Bremen oder Hamburg anheuern zu müssen für eine Anzeige in der Lokalzeitung.

Bitter liefert flott und, sehr wichtig in Vechta und umzu, versteht die Menschen der Region. Sollen die in Berlin mal schön auf hippen Events networken, in Vechta trifft man sich zum, nun ja, Nett-Working bei Bier und Korn auf dem Stoppelmarkt.

Nach ein paar Monaten zieht die Agentur an den heutigen Standort, ins Kathmann-Haus nach Vechta-Calveslage. Zuerst noch nicht in den feudalen Eiche-Rustikal-Trakt, sondern in den Bereich Kirsche künstlich. Egal, alles besser als die Garagen anderer Start-ups.

Bitter is always irgendwie better, würde vielleicht eine dieser denglischen Werbetempel aus der Großstadt dichten. Aber das wäre natürlich Quatsch. Bitter war und ist vor allem eines: bodenständig. Statt Kicker steht bis heute ein Schlagzeug in der Agentur. Dans op de Deel statt versnobte Werber-Bundesliga!

Zugegeben, irgendwann reicht es auch in Calveslage nicht mehr mit Hoch- und Plattdeutsch. Als ein Kunde einen französischen Text braucht, verdoppelt Christian Bitter kurzerhand das Personal seiner Agentur. Sprich: Er heuert einen ersten Mitarbeiter an. Das ist ein halbes Jahr nach Gründung. 

An Bord kommt nicht irgendwer, sondern Rachid Ameziane. Dessen Geschichte ist spektakulärer als die vom Marlboro- und Melitta-Mann zusammen. Der Marokkaner hat sich in Boston, USA, in eine Buchhändlerin aus Lohne verliebt. Und lebt nun mit Frau und Mac im Oldenburger Münsterland. Von Casablanca nach Calveslage – warum auch nicht. In der Tasche hat er einen Masterabschluss in Grafik-Design. Zudem spricht er fließend Englisch, Französisch und beherrscht arabische Schriftzeichen. Rachid erweist sich als ebenso professionell wie pragmatisch. Als mal von heute auf morgen eine Stellenanzeige für das „Deutsche Frühstücksei“ in die Lokalzeitung soll, druckt er sie kurzerhand in höchster Qualität auf dem Tintenstrahldrucker aus und fährt persönlich zum Verlag. Dort wird das Pamphlet dann mit der Repro-Kamera abfotografiert und gedruckt. Geht doch …

Datenübertragung mit dem Opel Corsa B

Die Aufträge werden größer, der Weg bleibt analog. Druckvorlagen für Broschüren bringt das Duo, auf sechs 3,5-Zoll-Disketten verteilt, im Opel Corsa B in die Druckerei. Datenübertragung mit Dreizylinder. „Das war wohl der einzige Corsa mit Automatik und Autotelefon“, sagt Christian Bitter. 16.000 Mark teuer, er weiß es bis heute. Für einen
Opel Bitter hat es damals wohl noch nicht gereicht …

Einmal erfindet die Agentur sogar das Ei neu. Die Firma Ovobest, Hersteller von Flüssig-Vollei, Flüssig-Eiweiß und Flüssig-Eigelb, braucht eine neue, flüssig geschriebene Imagebroschüre. Eigentlich soll die der Eier-Praktikant machen, ein junger Mann namens Franz Schockemöhle. Aber der beauftragt kurzerhand die Agentur Bitter – und ist damit ein weiterer Steigbügelhalter für die Werber. Heute verkauft er selbige an Reiter. Die ersten Kataloge der Firma Schockemöhle Reitsport gestaltet ab 1996 natürlich auch die kleine Agentur in Calveslage, aber das nur am Rande.

Alles aus einer Hand (oben, v. l.): Seit über 20 Jahren ist Simone Print-Profi durch und durch, Anna hat als Orga-Genie immer den Überblick, Michael steuert den Digitalbereich, Paula spürt die neusten Social-Media-Trends auf.

Im Kathmann-Haus entstehen im Laufe der Zeit echte Kalauer. Etwa für einen Architekten, der den Norddeutschen gern Südstaaten-Villen verkaufen möchte. Motto: „Wohnen wie Tom Sawyer, zahlen wie Huck Finn.“ Und für den Mercedes Vito mit Pferdehänger vom Autohaus Anders textet Chrise: „Mach mir den Hengst“. Sogar in der Mercedes-
Zentrale in Stuttgart haben sie gewiehert und den Claim übernommen.

Irgendwann macht Bitter erstmals Reklame in eigener Sache – und gestaltet Anzeigen mit einem kleinen, dicken Jungen als Testimonial. Gerüchten, es handle sich um ein Kinderbild des Agenturgründers, wird schon damals vehement widersprochen. Die Wahrheit ist: Rachid klöppelt das Motiv innerhalb von 20 Minuten mit Hilfe eines Stockfotos zusammen. Es ist bis heute auf der Homepage der Agentur zu sehen. Den Marokkaner zieht es nach zwei Jahren weiter in die Emirate und später nach San Francisco.

Rachids Abgang kommt damals eher ungelegen, denn die Agentur hat einen amtlichen Erfolg zu vermelden: Fortan setzen auch die Stadt Vechta, die Stadt Lohne, der Landkreis Vechta sowie der Verbund Oldenburger Münsterland auf deren Expertise. Bürokratie und Büro Bitter – ob das gut geht? Es geht. Chrise kann ja irgendwie mit jedem. Ab 2001 auch mit Ralf Kunefke. Die beiden kennen sich aus alten Mucker-Zeiten, Chrise als Schlagzeuger, Ralf am Bass, wobei sie nie zusammen spielten. Dafür bilden sie beruflich fortan eine Combo.

Ralf Kunefke: vom Bass zur besseren Hälfte

Ralf baut ein Tonstudio auf, schneidet Videos, verkabelt den ersten Agenturserver, damit niemand mehr im Corsa Daten übertragen muss. Ganz nebenbei ist er begnadeter Texter und verständiger Naturwissenschaftler, der auch komplexe technische Zusammenhänge schnell auf den Punkt bringen kann – ein Segen für die Agentur. Und für die Kundschaft, die häufig sehr komplizierte Investitionsgüter verkauft, aber nie so recht weiß, wie man das für den Konsumenten schmackhaft und kurzweilig aufbereiten kann.

Bald bauen Bitter & Company ein eigenes Fotostudio auf und eine Posterdruckerei, weil es so etwas sonst nur in den Großstädten gibt. „Wir wollten bezahlbare Qualität, und das Ganze bitteschön in einer Nacht“, sagt Chrise. „Tempo war nicht alles, aber mit entscheidend für den Erfolg der Agentur.“ Heute ist Bitter & Co. eine Full-Service-
Agentur, wie das im Reklame-Business so schön heißt. In Calveslage enstehen ganze Kampagnen. Für den Bundestagswahlkampf, für Hühnerställe, Gehwegplatten oder Diamantringe. Dazu Internetseiten, Filme, Fotos. Bitter influenct und programmiert, denkt und dichtet. Mit modernster Technik und mit Füller.

Der Corsa ist längst dem Glasfaseranschluss gewichen, der Neun-Zoll-Mac einem 32-Zoll-Curved-Display. Aber die Werte von damals, die haben sie gerettet bei Bitter & Co. Aus der Ein-Mann-Agentur wurde eine mittelständische Marketing-Manufaktur mit 22 motivierten Kolleginnen und Kollegen. Der Frauenanteil liegt bei 71,43 Prozent, der
Kaffeekonsum bei 17 Litern pro Tag. Und von den bislang 18 Auszubildenden sind einige immer noch da.

Chrise ist inzwischen 63 Jahre alt, Partner Ralf 58. Sie lassen nach wie vor die Puppen tanzen, klar. Aber auf der Bühne stehen mehr und mehr die jungen Leute, die sie gleichsam fordern und fördern. Im Grunde sind die beiden ein bisschen wie Waldorf und Statler aus der Muppet Show. Graumeliert und grummelig – und mit einem derbe guten Humor.

PS: Wäre noch eine Sache zu klären: Was hat es mit dem schusssicheren Fensterglas im Büro auf sich? Falls mal eine Werbebotschaft nicht, dafür aber der Kunde zündet? Nö. In Bitters Reklame-Reich residierte früher eine 350-Leute-Firma. Und deren Patriarch hatte wohl mal Ärger mit Kundschaft, die mit handfester Rache drohte. Aber das
ist eine andere Geschichte. Da geht’s dann eher um Krisen-Kommunikation. Und nicht um Chrises Kommunikation.

Sogar noch älter als Chrise: Das Kathmann-Haus ist Baujahr 1920, hat 59 Büroräume, 14 Bäder und einen Tropengarten. War früher Stammsitz derer von Kathmann.
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