Agrar- und Ernährungswirtschaft

Nachhaltig durch Innovation

Autor*in: RUTH OVERBERG

Er sieht seine Aufgabe darin, „den in der Agrar- und Ernährungswirtschaft notwendigen Transformationsprozess zum Wohle aller Beteiligten, wohldosiert und im Sinne eines gemeinsamen Auftrages mit allen Mitgliedern und Branchenpartnern fortzuführen", so der neue Vorsitzende des Agrar- und Ernährungsforums Oldenburger Münsterland (AEF) Sven Guericke in seiner Antrittsrede im April 2021.

Sven Guericke, mehr als 15 Jahre Vorstandsmitglied bei Big Dutchman und ursprünglich aus der Molkereiwirtschaft stammend, will diesen Auftrag mit Kompetenz und Sachverstand erfüllen. Gerade vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen werden in den AEF-Gremien praxisnahe, zielgerichtete und fundierte Antworten auf die Fragen der Gegenwart zum Nutzen der ganzen Branche entwickelt. Das AEF hat sich genau damit seit seiner Gründung im Jahre 2006 auch bundesweit einen Namen als politisches Sprachrohr der Landwirtschaft erarbeitet. Daran wird das AEF auch in Zukunft festhalten.

Vorschläge zum Umbau liegen vor

Um einen fachlichen und gesellschaftlichen Konsens zur Zukunft der Nutztierhaltung in Deutschland zu erreichen und um deren Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, hat 2019 das Agrarministerium in Berlin die sogenannte Borchert-Kommission eingerichtet. Diese wurde nach ihrem Leiter, dem ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert, benannt. Im Februar 2020 zeigte das Gremium seine konkreten Empfehlungen für einen gangbaren Weg der Transformation in der Nutztierhaltung auf. Darin enthalten sind Zielbilder, tierartenspezifische Zeitpläne und mögliche Finanzierungsmodelle für einen Umbau in der Tierhaltung. Das AEF hatte eigens dazu ein Memorandum mit offenen Fragestellungen an die Verantwortlichen gerichtet.

Borchert, Merkel, ZKL

Nach monatelangen Bauernprotesten im Sommer 2020 setzte Kanzlerin Angela Merkel überdies die Zukunftskommission Landwirtschaft (kurz: ZKL) mit dem Auftrag ein, praxis taugliche Empfehlungen und Vorschläge für eine nachhaltige und sozialverträgliche Umgestaltung der Agrar- und Ernährungswirtschaft in Deutschland zu erarbeiten und bestehende Zielkonflikte aufzulösen. Das Ergebnis dieser Kommission wurde im Juli 2021 veröffentlicht.

Beiden Gremien, also sowohl der Borchert-Kommission wie der Zukunftskommission Landwirtschaft, kann man positiv bescheinigen, dass ihre Ergebnisse von Verbrauchern, Tier- und Umweltschutzorganisationen sowie von Branchenverbänden, darunter auch dem AEF, mitgetragen werden.

Trotz aller Anstrengungen aber sieht das AEF noch viele offene Fragen. So dürfen die Folgewirkungen des Transformationsprozesses nicht allein auf die Urproduktion gerichtet sein, sondern müssen die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick nehmen.

Ungeklärt bleibt auch die Frage, wie die Landwirtschaft für ihre gesellschaftlichen Leistungen, also den Umbau der Tierhaltung, honoriert werden soll. Beziffert hat die ZKL die Kosten für den gesamten Transformationsprozess von 2020 bis 2040 auf rund elf Milliarden Euro pro Jahr. Darin berücksichtigt sind ca. 2,5 bis 4,1 Milliarden Euro per anno für die Umsetzung der Borchert-Empfehlungen.

Aufgrund des letzten Bundestagswahlkampfes und im Verlauf der Regierungsbildung sind beide Empfehlungspapiere bedauerlicherweise in ein politisches und zeitliches Vakuum gefallen.

Der neuen Bundesregierung muss es also gelingen, auf Basis der vorliegenden Empfehlungen verlässliche finanzielle Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft zu schaffen und diese Mittel im Bundeshaushalt einzuplanen. Bei Zielkonflikten zwischen Tierschutz und Baurecht, Immissionsschutzrecht etc. muss bei Stallumbauten dem Tierschutz Vorrang eingeräumt werden.

Der Lebensmitteleinzelhandel agiert flexibler als die Politik

Mit der Ankündigung von Aldi, Lidl und Rewe, ab 2030 nur noch Frischfleisch von Rind, Schwein, Hähnchen und Pute aus den Haltungsstufen 3 und 4 zu listen, preschte der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) im Juli 2021 dann in punkto Tierwohl an der Politik vorbei. Davon betroffen ist ein Marktanteil von fast 15 Prozent des gesamten deutschen Fleischhandels.

Das AEF sieht es kritisch, dass der LEH keine Verarbeitungsware in sein Tierwohlprogramm einbezieht und noch keine konkreten Konzepte für die Preisbildung und für Vertragsmodelle formuliert hat. Unklar ist zudem, wie etwa Schweinehalter den LEH mit Fleisch aus den Haltungsstufen 3 und 4 aufgrund der Baurechtshemmnisse beliefern könnten, ohne dass der LEH auf Frischfleisch aus dem Ausland zurückgreift.

Im Schweinebereich würden außerdem die Bereiche Sauenhaltung und Ferkelaufzucht ausgeblendet. Sinnvoller wäre ein klares 5xD-Bekenntnis des Handels zur deutschen Qualität und Herkunft, will heißen: Geburt, Aufzucht, Mast, Schlachtung und Zerlegung bzw. Verarbeitung des Tieres haben in Deutschland stattgefunden. Dies wäre ein wichtiges Zeichen zur Unterstützung der heimischen Landwirtschaft.

Auch die Verbraucher müssen ihr Einkaufsverhalten überdenken. Obwohl einer repräsentativen Studie zufolge zwei Drittel der Deutschen eine nachhaltige Ernährung als wichtig einstufen, greift die überwiegende Mehrheit beim Einkauf in der Regel weiterhin auf die preiswertesten konventionellen Fleisch- und Milchprodukte zurück.

Eine Umfrage der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN) hat ergeben, dass die Hälfte der deutschen Schweine halter in den nächsten 10 Jahren aus der Produktion aussteigen möchte.

Landwirte mit dem Rücken zur Wand

Bei allen Vorwürfen und Anfeindungen, die die Vertreter der Landwirtschaft zu erdulden haben, betonen sie ihre Bereitschaft, in die Zukunft ihrer Betriebe zu investieren und die Haltungsbedingungen nachhaltig weiterzuentwickeln.

Niedrige Erzeugerpreise, wegbrechende Exportmärkte und enorm gestiegene Energie- sowie Rohstoffpreise zwingen die Landwirte aber finanziell in die Knie. Damit aber die Landwirte auf die Forderungen des Handels und der Empfehlungen der ZKL eingehen können, muss die Politik rechtliche und finanzielle Rahmen bedingungen schaffen.

Sollte die neue Bundesregierung keine konkreten Leitplanken setzen, so warnt das AEF eindringlich davor, dass statt eines Strukturwandels ein regelrechter Strukturbruch in der Landwirtschaft einsetzt. Eine Umfrage der Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN) hat ergeben, dass die Hälfte der deutschen Schweine halter in den nächsten 10 Jahren aus der Produktion aussteigen möchte. Vor allem im Oldenburger Münsterland zöge eine solche Entwicklung nicht nur die ganze Wertschöpfungskette in Mitleidenschaft, sondern hätte darüber hinaus erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft in diesem ländlichen Raum.

Ernährungssicherung unter Schutzder Ressourcen als Auftrag

Bis 2050 wird weltweit ein Bevölkerungswachstum auf bis zu 10 Milliarden Menschen prognostiziert, die Zugang zu hochwertigen und nahrhaften Lebensmitteln benötigen. Die Agrar- und Ernährungswirtschaft weltweit steht vor der großen Herausforderung, in den kommenden 30 Jahren genug Lebensmittel zu erzeugen – und zwar auf deutlich weniger Fläche als heute.

Das bedeutet, dass die vorhandenen Flächen effizienter genutzt und gleichzeitig besser dafür gesorgt werden muss, dass die biologische Vielfalt und unsere natürlichen Ressourcen geschützt werden. Auch wenn sich in den hoch entwickelten Gesellschaften der Verbrauch vegetarischer und veganer Alternativen zu Fleisch und Wurst stetig erhöht, steigt – vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern – die Nachfrage nach tierischen Proteinen.

Hier wirken dann ganz einfach die Kräfte des Marktes: Sobald Nachfrage entsteht, findet auch Produktion statt, wo auch immer in der Welt. Deshalb müssen wir uns unter Klimaaspekten durchaus die Frage stellen, ob die weltweiten Treibhausgas(THG)-Emissionen tatsächlich sinken, wenn unsere Landwirte weniger Tiere halten? Verlagern sie sich nicht vielmehr in eben diese anderen Länder? Und sind die Emissonen dann womöglich sogar noch viel höher, weil die Produktion dort unter weitaus schlechteren Bedingungen stattfindet als in Deutschland?

Fest steht für das AEF, dass Klimaschutz alternativlos ist. Nachhaltigkeit und Klimaschutz gehen aber nur mit und nicht gegen die Landwirtschaft, denn sie spielt eine entscheidende Rolle beim ressourcenschonenden Umgang mit Boden, Luft, Wasser, Nährstoffen oder bei der Reduzierung von klimaschädlichen Emissionen.

Die Agrar- und Ernährungsbranche muss daher zum Erreichen der Klimaschutzziele auf qualitatives Wachstum sowie auf die Entwicklung und auf den Einsatz neuer Technologien setzen. Deshalb plädiert das AEF an die Politik, klimapolitische Maßnahmen am Gesamteffekt der direkten und indirekten Emissionswirkungen der Landwirtschaft auszurichten.

Digitalisierung als Chancentreiber?

Um die Klimaziele für die Agrar- und Ernährungswirtschaft schneller und nachhaltiger zu erreichen bieten digitale Technologien und der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) neue und große Perspektiven. Sie eröffnen in ganzen Bereichen der Landwirtschaft und der nachgelagerten Wertschöpfungskette enorme Potenziale zur Reduktion von Treibhausgasemissionen und Ressourcenverbräuchen sowie zur Steigerung der Effizienz – sei es im Ackerbau, in der Tierhaltung oder in der Verarbeitung. Diese Potenziale der Digitalisierung darf die Branche nicht ungenutzt lassen. Gerade jetzt, wo der Druck auf die Branche zusehends wächst, braucht sie innovative Lösungen und den Einsatz digitaler Technologien.

Dabei sieht das AEF die Politik in der Pflicht, Investitionen in die Digitalisierung zu fördern und den Ausbau der Infrastruktur im ländlichen Raum rasant zu beschleunigen – auch, um die Wirtschaftskraft der Branche zu erhalten und zu stärken. Gerade im ländlichen Raum haben deutschlandweit nur 17 Prozent der Bevölkerung schnelles Internet. Das muss sich zwingend ändern.

Was bringt die Zukunft?

Sven Guericke ist sich der Herausforderungen für die Branche durchaus bewusst: „Vor allem das OM muss auf Nachhaltigkeit durch Innovationen setzen. Das Rüstzeug ist vorhanden. Es ist der unbedingte Gestaltungswille sowie die Anpassungs- und Innovationsfähigkeit der Landwirte und Unternehmer aus dem Oldenburger Münsterland! Dass die Region viel leisten kann, hat sie in der Vergangenheit oft bewiesen. Und sie wird sich auch weiterhin das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen lassen und sich den zukünftigen Gegebenheiten entsprechend wirtschaftlich aufstellen. Das AEF wird sie dabei mit seinen Gremien unterstützen", so Guericke.

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