Die Region Südoldenburg versteht sich heute, vom Regionalmarketing seit den 1980er-Jahren gefördert, als Oldenburger Münsterland. Historisch als Niederstift Münster ein Teil Westfalens, kam das Gebiet 1803 an das Herzogtum Oldenburg und wurde damit in ein
protestantisches Territorium eingegliedert. Bereits von Münster und nun auch von Oldenburg aus wurde die wirtschaftlich uninteressante, arme Gegend als periphere Region wahrgenommen. Hier entwickelte sich eine kleinregionale, sehr konfessionell geprägte Identität mit einem starken Hang zur Abgrenzung von den benachbarten evangelischen Regionen: Heiraten zwischen Partnern aus Visbek und Ahlhorn, aus Goldenstedt und Harpstedt, aus Essen und Quakenbrück, aus Nikolausdorf und Littel – quasi unmöglich, wollte man nicht zum totalen Außenseiter werden. Zum Feiern blieb man unter sich, und für eine höhere Ausbildung ging man in eine katholische Stadt, meist nach Münster.
Obwohl man sich bemühte, „gute Oldenburger" zu sein – nirgendwo wird noch heute die Oldenburger Hymne „Heil Dir o Oldenburg" so häufig gesungen wie auf Festen in Südoldenburg –, blieben die Katholiken in Oldenburg fremd und galten in Westfalen als die kulturell Rückständigen aus Oldenburg. In dieser Gemengelage von Westfalen und Oldenburg gefangen, von beiden nicht wirklich integriert und auch jeweils mit abwertenden Stereotypen belegt, gründet das Selbstverständnis als eigene Region.
Trotz der starken regionalen Identität sind nur wenige Stereotype nach außen hin wirksam. Die Agrarindustrie prägt das Bild, Wirtschaftswachstum, hochindustrialisierte Prozesse, ob nun positiv bewertet oder sehr kritisch gesehen. Doch nur die ökonomischen Faktoren zu sehen, kann den Menschen in einer Region nicht gerecht werden. Wie man hier tatsächlich tickt, lassen weder Arbeitslosenzahlen noch Schweine- oder Hühnerdichte erkennen.
Angesichts der rasanten Globalisierung sind regionale Identitäten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Oldenburger Münsterlandes in den letzten Jahren in den Fokus gerückt; regionale Bräuche werden gar als Weltkulturerbe unter Schutz gestellt, Begriffe wie Heimat oder Glokalisierung werden intensiv diskutiert.
Die besondere historische Entwicklung und die Anpassungsprozesse an die moderne Ökonomie, gepaart mit spezifischen konfessionellen und mentalen Strukturen, werfen auch im Oldenburger Münsterland eine Fülle von kulturanthropologischen Fragen auf. Wie geht es den Menschen, wenn sie innerhalb weniger Jahrzehnte aus einer eher kleinräumigen Welt in die Globalisierung katapultiert werden, sie zum Beispiel als Arbeitnehmer in der Agrarindustrie in weltweit tätigen Unternehmen beschäftigt sind? Werden die Erfahrungen der Globalisierung am Wochenende „in den Schrank gehängt", wenn man mit den Freunden aus der Jugendzeit feiert? Kehren vielleicht gerade wegen der Freundescliquen viele Akademiker auch nach dem Studium zurück, weil sie diesen sozialen Kitt der Zugehörigkeit suchen? Wie wird dieser Kitt ritualisiert und tradiert? Die Globalisierung hat auch über mehrere Migrationswellen Einzug in die Region gehalten. Wie werden die eingewanderten Migranten in diese Kultur integriert, gibt es Parallelgesellschaften?
Wie gehen die ehemaligen Protagonisten der agrarischen Welt, die Bauern, damit um, wenn nur wenige von ihnen die Dynamik des Wachstums mitmachen können, viele andere aber ihre traditionsreichen Höfe aufgeben und ihre bisherige Rolle in der Gesellschaft verlieren? Welche Rolle spielt die Konfession, die einst alles bestimmte, noch für die Alltagskultur? Noch in den 1960er-Jahren wurde zur Erntezeit die persönliche Zustimmung des Pfarrers eingeholt, wenn man sonntags arbeiten musste. Heute wird in mehreren Schichten rund um die Uhr gewirtschaftet. Die Emanzipation vom Einfluss der kirchlichen Instanzen hat enorme kulturelle Folgen und bringt viele Friktionen mit sich.
Noch in den 1970er-Jahren bezogen volkskundliche Forschungen in Münster ganz selbstverständlich die ehemaligen Regionen des Niederstifts ein. Dies hat sich geändert. An der Universität Vechta gibt es zwar eine starke regionalhistorische und landesgeschichtliche Forschungstradition, doch standen hier kulturanthropologische Fragestellungen bislang nicht im Vordergrund.
So entstand die Idee, eine Forschungsstelle zu etablieren, die sich genau solchen Fragen und Prozessen annähert. Im Zusammenwirken der Universität Vechta, des Museumsdorfs Cloppenburg und der Kreise Cloppenburg und Vechta wurde dazu in einer deutschlandweit einmaligen Weise eine Kooperation eingegangen und das Kulturanthropologische Institut Oldenburger Münsterland als An-Institut der Universität Vechta gegründet. Mitglieder des Vereins sind zudem der Heimatbund, die Bernhard Remmers-Akademie, die Anna und Heinz von Döllen-Stiftung, die Niedersächsische Kommission für Volkskunde und der Heimatbund Oldenburger Münsterland.
Mittlerweile mit zwei festen Wissenschaftler* innen und zwei Volontär*innen besetzt, begann vor gut einem Jahr die Feldforschung. Der direkte Kontakt mit den Menschen durch Gespräche und Interviews im Feld ist die eigentliche Methode dieser Wissenschaft. Zunächst hat man sich drei Themen vorgenommen.
Strukturwandel und Landwirtschaft
Eins davon ist „Strukturwandel und bäuerliches Selbstverständnis – Landwirtschaft im Oldenburger Münsterland" (Thomas Schürmann). Dass das Agrobusiness und seine nachgelagerten Industrien die Region OM prägen, ist hinlänglich bekannt. Doch gleichzeitig stehen die Landwirte seit Jahrzehnten unter wachsendem wirtschaftlichen Druck. Überdies sehen sie sich aufgrund der Intensivtierhaltung und ihrer Folgelasten einem wachsenden gesellschaftlichen Unverständnis ausgesetzt. Die Zukunft vieler Höfe ist ungewiss. Innerhalb der Bundesrepublik gilt die Hofnachfolge bei nur 30 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe als gesichert. Auch in Südoldenburg stehen viele Betriebe spätestens mit dem Generationenwechsel vor der Schließung.
Das Projekt untersucht auf der Grundlage erzählender Interviews, wie sich die Betroffenen, das heißt die Landwirt*innen, in dieser Situation verhalten, wie sie ihre Aussichten einschätzen und welche Strategien sie entwickeln. Auch das Verhältnis zur Tradition ist von Bedeutung: Welche Rolle spielt das Hofdenken, nach dem die persönlichen Belange weitgehend dem Erhalt des Betriebes untergeordnet werden, und welche Rolle spielt der Gedanke der Freiheit des selbständigen Landwirts? Sind sie eine mentale Stütze, oder sind sie eher ein Ansporn zur Selbstausbeutung? Werden hergebrachte Formen des Erbrechts, die den Hofnachfolger deutlich privilegieren, weiterhin weitgehend fraglos hingenommen? Wie haben sich der Alltag und das Berufsbild der Landwirte verändert? Über die Ebene der Betriebe hinaus fragt das Projekt, wie Dörfer sich entwickeln, in denen oft nur noch wenige landwirtschaftliche Betriebe aktiv sind, und welche Rolle die Landwirte, die jahrhundertelang die tonangebende Bevölkerungsgruppe bildeten, in den Gemeinden spielen. Diese Fragen sind über den Agrarsektor hinaus von Bedeutung, denn mit der Landwirtschaft ändert sich der Charakter des gesamten ländlichen Raumes.