Tunschere und Wäperraut

Ein Zeichen für Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt

16.12.2022

Die Zeit zwischen den Jahren steht ganz im Zeichen der Besinnlichkeit. Mit Freund:innen und Familie das Jahr ausklingen lassen, gehört einfach dazu. Im Oldenburger Münsterland findet die Zuneigung für die Liebsten eine besondere Ausdrucksform: Beim Bringen einer Tunschere am letzten Tag des Jahres steht der Spaß im Vordergrund. 

Wenn es „Tun! Tun!“ oder „Wäp! Wäp“ durch die Nacht schallt, wissen Alle Bescheid – hier wird gerade ein Neujahrsstreich gespielt! So still und heimlich wie möglich wird die Tunschere ins Haus der Freund:innen oder der Verwandten gelegt. Hat sie ihren Platz gefunden, folgt besagter Ausruf. Dann geht es darum, die Streichspielenden zu erwischen und als „Strafe“ reichlich zu bewirten. Werden sie nicht erwischt, wird die Tunschere am Dreikönigstag wieder zu ihnen zurückgebracht, und das Spiel geht mit vertauschten Rollen von vorne los.

Aber was ist eigentlich eine Tunschere?

Ein altes Kunsthandwerk

Eine Tunschere, auch Tuunschere geschrieben oder Wäperraut genannt, ist eine Figur aus Holz. Um den charakteristischen Look zu erzielen, werden feine Löckchen von weichem Holz, zum Beispiel Weidenholz, mit einem scharfen Messer abgeschliffen. Diese verzieren dann gemeinsam mit anderen Dekorationen wie Kreppband, Bildern und Neujahrswünschen in Schönschrift das Trägerholz. Jedes Gebilde ist einzigartig und braucht in der Herstellung viel Geduld und Konzentration.

Während die Begriffe Tunschere und Wäperraut heute synonym benutzt werden, war die Wäperraut einmal eine einfachere Version der Tunschere, eine Art Vorgängerin. Das Tunscheren als Tradition ist im gesamten Nordwesten beheimatet, nicht nur im Oldenburger Münsterland. Aufzeichnungen über den Brauch aus dem Hümmlinger Heimatbuch beschreiben den Unterschied zwischen Tunschere und Wäperraut so: „Während die Herstellung einer Wärpelraut nur wenig Geschicklichkeit im Falten und Schneiden des bunten Papiers erfordert, ist die Anfertigung einer Tunschere nicht jedermanns Sache.“ Sogar ein gewisser Nachhaltigkeitsgedanke liegt dem Brauch inne. Der Autor schreibt: „Es werden aber nicht jedes Jahr neue Tunscheren gekauft. Die zum Geschenk erhaltenen Kunstwerke werden im Glasschrank bis zum nächsten Winter sorgfältig aufbewahrt und dann wieder ausgebracht.“ Die Aufzeichnungen stammen aus dem Jahr 1928.

Der Brauch ist wahrscheinlich seit dem 11. Jahrhundert überliefert.

Eine lange Geschichte

Wie bei vielen Bräuchen und Traditionen ist auch beim Tunscheren nicht ganz klar, wie und wann die Idee entstanden ist. Der Brauch ist wahrscheinlich seit dem 11. Jahrhundert überliefert. Ihm wird sogar nachgesagt, aus der Zeit der Germanen zu stammen. Als sogenannte „Tunschare“ wurden damals Bewohner:innen eines Dorfes bezeichnet, die ein eigenes Haus an den Zäunen eines Hofes besaßen. In diesem Zusammenhang bedeutet „Tuun“ also „Zaun“. Die „Tuun-Scharen“ brachten damals den Hofbesitzer:innen, also dem Herrenhaus, Holzgestecke als Zeichen der Verbundenheit. Gleichzeitig soll der Begriff „Tuunschere“ auf das saterländische Wort für „abschaben“ zurückzuführen sein, was sich auf die abgeschabten Holzlocken, die eine Tunschere verzieren, bezieht. Der Begriff Wärperraut hingegen ist wahrscheinlich auf das verwendete Holz des Wegedorns zurückzuführen.

Ein Liebesbeweis

Der Tunscherenbrauch hat sich im Laufe der Zeit stets weiterentwickelt. Während heute eher die Pflege von nachbarschaftlichen Beziehungen und Freundschaften im Fokus steht, war es auch lange üblich, mit einer Tunschere das Interesse für eine Verlobung auszudrücken.

Im Hümmlinger Heimatbuch wird die Geschichte von Gerd und Trina erzählt: „Er nimmt die feinste Tunschere aus dem Schranke und eilt durch die kalte Abendluft zum Hause der Erwählten. Leise öffnet er die Tür, stellt die Tunschere auf einen Stuhl und verschwindet wieder. Alles stürmt ihm nach, um den "Eindringling" zu erhaschen. Er wird erwischt – eben dieses will er – und im Triumph in die beste Stube geführt. Nun wird gegessen und getrunken bis in die Nacht hinein.“ So entwickelten sich Tunscheren zwischenzeitlich zum Statussymbol für junge Frauen. Wer am meisten davon erhielt, war am beliebtesten.

So individuell wie die Tunscheren gestaltet sind, ist auch die Art und Weise, wie die Tradition vollzogen wird. Ein Schnaps zwischen Freund:innen, ein gemeinsames Festessen oder gar ein Heiratsantrag – die Möglichkeiten sind vielfältig. In jedem Fall geht es aber um eine gute Zeit mit den Liebsten. Heute wird der Brauch nur noch von einigen Wenigen weitergeführt. Liest man aber die Geschichten über den Spaß am Schenken, über das gegenseitige Necken und über den Ausdruck der Zuneigung stellt sich die Frage: Ist es an der Zeit, das Tunscheren wiederzubeleben?