Moderne Architektur

Baukunst im ländlichen Raum

Die großen Büros in London oder Dubai, sind das die Traumziele von Architekten? Oder ist es doch eher der Familienbetrieb in Lindern oder Dinklage?

BAUHAUS In Cloppenburg steht dieser Prachtbau, entwickelt vom Büro Weß.

Claudia Weß hat die passende Antwort für sich gefunden. Nach Jahren in Großbritannien und den Vereinigten Arabischen Emiraten ist sie zurückgekehrt ins Oldenburger Münsterland und in das von ihrem Vater Hans geführte Architekturbüro. Sie weiß: Auch hier sind ihre Kenntnisse und Fähigkeiten gefragt. Und sicherlich ist es kein ganz abwegiger Gedanke, dass die Aufgabe, im ländlichen Raum für bemerkenswerte Architektur zu sorgen, ja auch viel spannender sein könnte.

Da ist zum Beispiel die junge Familie mit zwei kleinen Kindern. Die Eheleute hatten sich in Architekturmagazinen nach Modellen für ihr Wunschhaus umgesehen. „Das tun sie alle", stellt Claudia Weß lachend fest, „meistens entscheiden sie sich, auf 150 bis 200 Quadratmetern wohnen zu wollen". In diesem Fall liegt die Sache indes anders. Es soll ein Landhaus sein, sogar im XXXL-Format. Nicht mit 200 Quadratmetern, sondern mit etwa doppelter Wohnfläche. Alles doch erheblich größer als sonst. Eine Herausforderung für jede Architektin und jeden Architekten.

WELTENBUMMLERIN Claudia Weß ist nach Stationen in London und Dubai zurück in Lindern.

Wenn auch nicht unbedingt in der eben genannten Wunschgröße, sind Stadtvillen bzw. Landhäuser doch eindeutig typisch für das Erscheinungsbild des Oldenburger Münster­lands. Dabei handelt es sich in der Regel um moderne, freistehende und zweigeschossige Gebäude mit quadratischen Grundrissen und Flach- oder flach geneigtem Walmdach mit umlaufender Traufhöhe. Variationen nicht ausgeschlossen.

Je mehr Architekten von ihren Bauherrn ­wissen, desto besser
ist es für sie.

 

Fährt man aufmerksamen Auges durch die Region, entdeckt man mehr als einmal solch attraktive Gebäude. In der Regel sind sie ein Glücksfall für die beteiligten Architekten, denn sie können hier viele ihrer Vorstellungen und Ideen verwirklichen. Anders als in so mancher engen Stadt, in der es inzwischen vorrangig um die Verdichtung des Wohnraums geht. Natürlich strahlt ein Prachtbau zudem etwas aus – mindestens dies: Seht her, hier versteht es jemand zu leben. Auch großzügige Garagenauffahrten und weite Rasenflächen lassen häufig auf eine Vorliebe für den mediterranen Bau- und Lebensstil schließen.

Architektin Maria Seidlitz von der Bauwerkstatt in Vechta zeigt auf ihrer Internetseite auch eine ganze Reihe an solchen Objekten, die sie in den vergangenen Jahren in der Region realisieren konnte. Sie weiß: Oft kommt es auf die Detailplanung an. Deshalb ist es vor allem entscheidend, dass die zukünftigen Bauherrn im Vorfeld eines Auftrags mit ihr sprechen. Möglichst konkret sollten sie von ihren Wünschen und Vorstellungen erzählen. Was mögen sie, was missfällt ihnen? Welche Farbwelten dürfen es sein, wie soll der Zuschnitt der Räume ausfallen? Und sind vielleicht noch mehr Kinder geplant, die dann zumindest mittelfristig eigene Zimmer beziehen werden? „Je mehr ich weiß, desto besser", sagt Seidlitz. Ihr Anspruch: Jeder Bau soll maßgeschneidert sein, Schema F kommt nicht infrage.

Vor Gericht

Der Amerikaner Frank Lloyd Wright erschien als Zeuge im ­Gerichtssaal. „Ihr Beruf?", fragte der Vorsitzende. „Ich bin der ­größte lebende Architekt." Nachher fragten seine Freunde bestürzt, wie er so etwas habe sagen können. „Ich musste", antwortete Wright. „Ich stand unter Eid."

AUSGEZEICHNET Mit den Ravensberger Höfen in Vechta nahm die MB-Architektur GmbH aus Dinklage am niedersächsischen Tag der Architektur teil.

Die Pandemie hat das Leben auf dem Land wieder attraktiver gemacht.

Eine weitere gute Gelegenheit, den Stil eines Architekturbüros kennenzulernen, bildet der traditionelle „Tag der Architektur". Er wird alljährlich von der Architektenkammer Niedersachsen organisiert. Die Veranstaltung gestattet den Blick ins Innere zeitgemäßer Neubauten. Maria Seidlitz nahm daran 2012 mit einem Wohngebäude teil, das sie im Stadtsüden von Vechta errichtet hatte. Hunderte wissbegieriger Besucherinnen und Besucher kamen an einem Sonntag vorbei, um sich einen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen. „Die Situation war schon recht besonders", erinnert sich Seidlitz, „denn das Haus war bereits bewohnt".

DETAILS Architektin Maria Seldlitz weiß: Auf die Kleinigkeiten kommt es an.

Ähnliche Erfahrungen machte auch Ansgar Pigge. Der ebenfalls in Vechta ansässige Architekt war 2015 beim „Tag der Architektur" dabei – und präsentierte sein eigenes Wohngebäude. Wie sieht es darin aus? „Wir leben schon auf 220 Quadratmetern", erläutert der 52-Jährige, „aber ich habe versucht, alles noch etwas größer und luftiger wirken zu lassen". Die Tricks, mit denen sich das bewerkstelligen lässt, sind kein Geheimnis. Höhenversprünge und Brüstungen spielen eine zentrale Rolle. Im Erdgeschoss gibt es bis auf die zum WC keine Türen, statt Wänden wurden soweit möglich Stützpfeiler eingezogen. Pigge hat sein Ziel erreicht: „Der Grundriss unseres Hauses ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich, aber er entspricht genau unseren Vorstellungen." Nicht zu vergessen: „Die Kosten konnten wir im Rahmen des Geplanten halten."

Apropos Kosten: Lange Zeit hatten sich die Grundstückspreise in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg auf einem im bundesweiten Vergleich moderaten Niveau stabilisiert. In den Monaten der Pandemie sind sie allerdings ein Stück nach oben geklettert. So erhöhten sich nach Angaben des Niedersächsischen Landesamts für Geoinformation und Landesvermessung 2020 die Ausgaben für den Quadratmeter Bauland im Kreis Cloppenburg um 13 und im benachbarten Kreis Vechta um elf Prozent. Die Preissteigerungen hatten jedoch keine Auswirkungen auf den Verkauf von Grundstücken. Auch er zog merklich an. Und häufig überstieg die Nachfrage das ­Angebot.

UNTERSTÜTZUNG Architekt Ansgar Pigge sieht sich nicht nur als Dienstleister, sondern ist auch Berater des Bauherrn.

Kundige Zukunftsforscher erkennen inzwischen eine Trendumkehr. Sie sehen im Corona-Schock den Gamechanger. In Folge der Pandemie hat das Leben auf dem Land plötzlich wieder an Attraktivität gewonnen. Denn Städte, in denen das kulturelle, gastronomische und gesellschaftliche Leben stillsteht, verlieren schnell ihren Reiz und können gegenüber dem ländlichen Raum nicht mehr besonders viele Vorteile aufweisen. ­Daneben tragen die veränderten Arbeitsweisen ihren Teil zur Entwicklung bei. Ein Arbeitsplatz im Homeoffice mit Blick auf grüne Wiesen ist gegenüber dem mit der Aussicht auf graue Hinterhöfe sicherlich vorzuziehen. So wird aus Landflucht binnen Monaten Landliebe.

Zudem führe, wie Ansgar Pigge bestätigt, „Großdenken außerhalb der engen ­Städte nicht zwangsläufig in die Sackgasse". Wer viel Fläche suche, um seine Wohnträume real werden zu lassen, habe im Oldenburger Münster­land auch weiterhin gute Chancen, fündig zu werden. Man müsse sich nur über den Kostenrahmen im Klaren sein und wissen, ob der geltende Bebauungsplan das gewünschte Vorhaben tatsächlich zulasse. „Aber ich bin ja als Architekt nicht nur Dienstleister, sondern auch Berater des Bauherrn und kann sagen, was geht und was nicht."

Architektur ist nicht nur Baukunst, sie hat auch einen Mehrwert für die Menschen.

Diesem Gesichtspunkt misst auch Elke Meinert-Bahlmann große Bedeutung zu. Die Inhaberin der MB-Architektur GmbH in Dinklage stellt in ihren Vorgesprächen immer öfter fest, dass es den Kundinnen und Kunden nicht mehr nur darum geht, dass gebaut wird, sondern auch, wie gebaut wird. „Ich werde häufig direkt auf Nachhaltigkeitsaspekte angesprochen, beispielsweise wenn es um die Materialen geht", sagt sie. Sollte das nicht der Fall sein, lenkt sie die Beratung bewusst auch in diese Richtung. „Wir wollen den Bauherrn Impulse geben, entscheiden müssen sie am Ende natürlich selbst." Spätestens, wenn es um die Langlebigkeit und den Werterhalt einer Immobilie geht, hören sie genauer hin. Klarer Fall: Gute Architektur ist nicht nur Baukunst, sie hat immer auch einen Mehrwert für die Menschen.

GRILLPLATZ Auch die Gestaltung des Außenbereichs spielt eine zentrale Rolle.

Meinert-Bahlmann plädiert für ein Umdenken auch beim Wohnungsbau in den Städten. Die Zeit, als beinahe jeder Quadratmeter Natur zugepflastert wurde, sei vorbei. Stattdessen gelte es, sie klug in die Planungen zu integrieren – gerade, wenn man an das Thema Verdichtung denke. „Beim Geschosswohnungsbau werden die Potenziale bislang nicht ausgeschöpft", erklärt sie. Zudem müsse man verstärkt den Bau von Doppel- oder Reihenhäusern in den Fokus nehmen.
Wie mit der Natur und nicht gegen sie gebaut werden kann, zeigt das Projekt „Ravensberger Höfe" in Vechta, mit dem MB-Architektur 2018 am „Tag der Architektur" teilnahm. 76 Mietwohnungen in acht Gebäuden bilden hier im Herzen der Stadt ein lebendiges Quartier, dessen Mittelpunkt eine offene und von den Bewohnerinnen und Bewohnern viel genutzte Gartenanlage bildet. „Damit erhöhen wir die Aufenthaltsqualität um ein Vielfaches und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass man wirklich miteinander wohnt."

Die „Ravensberger Höfe" sind ein Beispiel dafür, wie sich die Baustile der größeren Städte und des ländlichen Raums mehr und mehr angleichen. Das Konzept, Wohnungen rund um zwei Höfe zu positionieren, könnte direkt aus Berlin stammen. Für Elke Meinert-Bahlmann ein Beleg, dass urbanes Leben auch außerhalb von Metropolen funktionieren kann. „Aber wir brauchen dafür mutige Investoren, mutige Bauherrn und mutige Politiker mit Visionen, die sich trauen, auch mal etwas Neues zu versuchen." Da gäbe es noch Nachholbedarf.
Zurück zum Anfang und zur Familie mit dem Wunsch nach einer XXXL-Stadtvilla: Das Büro Weß hat den Auftrag inzwischen vorangetrieben und ist nun mit den Ausführungsplanungen beschäftigt.