Auf Kurs

Die Lehren aus der Krise

„Digitale Schulungen für unsere Kunden und externen Mitarbeiter werden einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen als in der Vergangenheit", erklärt Christine Grimme. Wir haben Unternehmer*innen der Region gefragt, welche Lehren sie aus den aktuellen Herausforderungen ziehen.

Umdenken und dazulernen (links) TORSTEN BREMER: „Insbesondere im medizinischen Bereich um den Infektionsschutz haben wir in kürzester Zeit viel dazugelernt und umgesetzt." (rechts) CHRISTINE GRIMME: „Digitale Schulungen für unsere Kunden und externen Mitarbeiter werden einen deutlich höheren Stellenwert einnehmen als in der Vergangenheit."

Als Steuermann ­lenkte Torsten Bremer 1980 den Deutschland-Achter zu den Olympischen Spielen nach Moskau. Dass das Flaggschiff der Ruderflotte daran nicht teilnehmen konnte, lag am von der Politik beschlossenen Boykott des Ereignisses. 40 Jahre später sind Bremers Führungsqualitäten erneut gefragt. Seit 2004 leitet der promovierte Physiker eines der renommiertesten Unternehmen im Oldenburger Münsterland: „Boge Rubber & Plastics". Als langjähriger Partner international agierender Auto­hersteller zählt es zu den wichtigsten Zulieferern der Branche – die durch die Coronakrise in unruhiges Fahrwasser geraten ist.

„2020 war ein Automobiljahr zum Vergessen", resümiert Bremer. Zwar ist die weltweite Nachfrage nach Fahrzeugen bereits seit Mitte 2018 rückläufig, doch mit Beginn der Pandemie ging es steil bergab. So sank in Deutschland die Zahl der Neuzulassungen im April 2020 um 61 Prozent. Insgesamt wurden im letzten Jahr hierzulande laut Kraftfahrt-Bundesamt 2,9 Millionen Neuwagen weniger zugelassen als im Vorjahr. Der Rückgang spiegelt sich eindeutig auch in den Zahlen der Zulieferer wider. Steuermänner sind gefragt.

„2020 war ein Automobiljahr zum Vergessen", sagt Boge-Chef Torsten Bremer.

Torsten Bremer erlebte 2020 als stetes Auf und Ab. „Um den ersten Lockdown herum sind die Umsätze ins Bodenlose gefallen", sagt der gebürtige Osnabrücker. „Der Optimismus kehrte im letzten Quartal zurück, als sich die monat­liche Auslastung wieder auf das Niveau des Vorjahres hinbewegte. Seit Mitte Januar des laufenden Jahres ziehen wieder dunkle ­Wolken auf." Der Grund liegt darin, dass die Versorgung mit elektronischen Bauteilen nicht glatt läuft und die Produktion vielfach erneut heruntergefahren werden musste. Dennoch bleibt der Boge-Chef hoffnungsvoll: „Wenn es keine ­Lieferengpässe mehr gibt, und wir die Pandemie in den Griff bekommen, bin ich zuversichtlich, dass die Automobilindustrie sich wieder nachhaltig erholt."

Für sein Unternehmen deutet er Konse­quenzen an. Man werde verstärkt ­versuchen müssen, die Lieferketten wieder ­regionaler aufzustellen und „in den wesentlichen ­Märkten mit eigenen Produktionsstätten präsent zu sein". Auch einen „weiteren dezentralen Kompeten­zaufbau" hält er für notwendig. „Wir ­haben schmerzhaft erfahren, dass wir urplötzlich ­keine Experten aus Deutschland mehr in die Welt schicken konnten." Zudem müsse man sich ­darauf einstellen, „dass auch künftig ähnliche globale virale Risiken auftreten ­können". Dann gelte es besser vorbereitet zu sein. ­Bremer sieht die Gesellschaft auf einem guten Weg: „Insbesondere im medizinischen Bereich um den Infektionsschutz haben wir in kürzester Zeit viel dazugelernt und umgesetzt." Auch von den Fortschritten in puncto digitaler Kommunikation und mobilem Arbeiten werde man ­künftig profitieren.

Nebenan, bei der ebenfalls in Damme ansässigen Landmaschinenfabrik Grimme, sieht man das ähnlich. Die Bedeutung des Gesundheitsschutzes werde hoch bleiben. Man wisse jetzt, wie sich etwa bei einer Grippe­welle die Belegschaft noch besser schützen lasse, sagt Christine Grimme. „Bei Bedarf werden wir ­sicherlich wieder die Maßnahmenpakete aus der Schublade holen." Sie erwartet ferner, dass „digitale Schulungen für unsere Kunden und externen Mitarbeiter einen deutlich ­höheren Stellen­wert einnehmen als in der Vergangenheit". Darüber hinaus habe sich bei dem Unternehmen von Weltrang die zügige Umstellung auf Homeoffice sehr positiv ausgewirkt: „Wir können noch individueller auf die Arbeits­bedingungen und persönlichen Bedürfnisse von Mitarbeitern eingehen." Die neuen Arbeitsmodelle hätten zukunftsweisenden Charakter und würden auch helfen, die Attraktivität des Unternehmens als Arbeitgeber zu steigern. Ein angenehmer Nebeneffekt.

Die Krise nutzen (links) ALFRED KESSEN UND STEFAN WERNSING: „Wir haben die Krise dazu genutzt,
unser Engagement im Bereich Nachhaltigkeit zu intensivieren." (rechts) HARALD VOGELSANG: „Homeoffice kann zu einer besseren Harmonisierung zwischen Arbeitsleben und privaten Aufgaben führen."

Raus aus der Routine, Veränderungen ­akzeptieren, Gewohntes infrage ­stellen – das sind zentrale Erkenntnisse aus der Zeit der Pandemie. Sie erweist sich trotz aller negativen Umstände als Beschleuniger längst überfälliger Entwicklungen. „Wir werden mutiger werden, um schneller Lösungen zu schaffen", verspricht Christine Grimme.

Bereits einen Schritt weiter ist man bei der Wernsing Feinkost GmbH in Addrup-­Essen. „Wir haben die Krise dazu genutzt, unser ­Engagement im Bereich Nachhaltigkeit zu intensivieren", erklärt Geschäftsführer Alfred ­Kessen. Seit dem 1. Oktober 2020 wirtschaftet das Unternehmen klimaneutral. Zudem ist es schon länger dezentral organisiert, um Anforderungen der Kunden und des Marktes aufzunehmen. „Wir fühlen uns bestätigt, hier in der Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben", fügt Kessen hinzu, räumt aber auch ein, im Bereich Digitalisierung noch Nachholbedarf zu haben.

Eine Lehre aus dem Jahr: Es zahlt sich aus, möglichst breit aufgestellt zu sein.

Kritik übt der bei Wernsing für die Themenkomplexe Materialwirtschaft, Logistik und Nachhaltigkeit verantwortliche Geschäfts­führer am Umgang der Politik mit der Gastronomie: „Es wurde eine Pauschalschließung verordnet, ohne konkrete Hygienekonzepte zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund hat unser Vertrauen in eine zeitgemäße, ganzheitliche Politik erheblich gelitten." Darüber hinaus, so merkt Kessen an, seien die Ankündigungen zur gastronomischen Schließung immer mit einem sehr kurzen Vorlauf verbunden gewesen, was zu großen Warenvernichtungen geführt habe. „Mit nachhaltigen Entscheidungen steht das sicherlich nicht im Einklang."

Wie seine Kollegen stellt auch Harald ­Vogelsang, einer von drei Geschäftsführern der Vogelsang GmbH & Co. KG in Essen, Überlegungen an, wie es weitergehen kann. Das vor ­allem auf Umwelttechnik spezialisierte ­Unternehmen hat das Krisenjahr gut überstanden – „mit ­einem deutlichen Umsatzplus", wie Vogelsang betont. Das liege etwa an einer „starken Diversifikation in Märkte, Produkte und ­Länder". Tatsächlich zeigen Erfahrungen aus vielen Branchen, dass es sich auszahlt, möglichst breit aufgestellt und damit unabhängig von nega­tiven Entwicklungen auf einzelnen Geschäftsfeldern zu sein. Wünschenswert wäre es, sagt der Firmenchef darüber hinaus, „dass irgendwann mit Rückblick auf den Verlauf dieser Pandemie Vorgehen und Maßnahmen entwickelt werden, die schneller und ausgewogener sind, und möglichst minimalinvasiv auf die Wirtschaft wirken".

Für die Zukunft sieht Vogelsang in ­erster Linie Nachholbedarf und Entwicklungs­potenzial bei zwei zentralen Themen: der Hygiene und der Digitalisierung. Das Unternehmen habe, ­erklärt Harald Vogelsang, in ­entsprechende Maßnahmen und Vorkehrungen ­investiert. Und das ­sogar früher als von der Politik verordnet. Überhaupt sollte der Hygiene grundsätzlich ein ­höherer Stellenwert zukommen. Man könne sich ein Beispiel an Japan und ­anderen ­asiatischen Ländern nehmen. Jeder mit Schnupfen­symptomen trägt im öffentlichen ­Bereich eine Maske, Desinfektionsmittel sind im fernen ­Osten selbstverständlich.

 

BERND MEERPOHL „Ich glaube, dass wir nie wieder so verrückt viele Dienstreisen quer durch die Welt machen werden wie bisher."

Dass viele Mitarbeiterinnen und ­Mitarbeiter in der Krise ins Homeoffice wechseln konnten, sei erst durch die Digitalisierung möglich geworden. Voraussetzung, so Harald Vogelsang, sei eine „gute IT-­Infrastruktur". Homeoffice erhöhe zwar die ­Anforderungen an Organisation und Management und koste zunächst Geld. „Aber es gibt auch Einsparpotenziale und kann zu einer ­besseren Harmonisierung zwischen Arbeits­leben und privaten Aufgaben führen." Und es gibt neue Präsentations­möglichkeiten. So findet sich auf der Vogelsang-Website ein virtueller 360-Grad-Ausstellungsraum, in dem Besucher agrartechnische Produkte über Touchpoints ­interaktiv kennenlernen können. Vor anderthalb Jahren war das vielfach noch Zukunfts­musik, heute ist es Realität.

Eine weitere Lehre aus dem vergangenen Jahr: Dienstreisen sind out, Videokonferenzen in. „Reisetätigkeiten werden zu einem Teil durch digitale Mittel im Vertrieb und der Kunden­ansprache ersetzt und ergänzt", weiß Harald Vogelsang aus eigener Erfahrung. Und Bernd Meerpohl, Geschäftsführer des global führenden Stallausrüsters Big Dutchman in ­Calveslage, ergänzt: „Ich glaube, dass wir nie wieder so verrückt viele Dienstreisen quer durch die Welt machen werden wie bisher." Vieles lasse sich auf digitalem Wege und mit Videocalls effizient besprechen.

Gut aus der Krise gekommen sind vorrangig Firmen, die sich schnell und flexibel auf die neuen Verhältnisse eingestellt haben. Viele, auch kleinere Unternehmen beweisen, dass das möglich und sinnvoll ist. Es gelte beispiels­weise, „Risiken künftig noch mehr zu streuen", bekräftigt Meerpohl. Auch sein Unternehmen sei nicht auf ein Problem eines solchen Ausmaßes vorbereitet gewesen. Prozesse mussten verändert, Pläne umgeschrieben, Ziele korrigiert werden. „Doch das wirft uns nicht um." Im Gegenteil. Nun rückten verstärkt neue Geschäftsfelder ins Blickfeld, um „nicht nur von einer Zielgruppe oder einer Branche abhängig" zu sein.

Vieles, was vor kurzem noch Zukunftsmusik war, ist heute durch Corona Realität.

Es mag womöglich zynisch klingen, aber auch die schlimmste Krise bietet Chancen. Sie öffne „auch die Augen für neue Ideen", unterstreicht Bernd Meerpohl. Dinge werden klarer, Herausforderungen eher erkannt. Auch wenn er einräumt, dass das Virus seinem Unternehmen „viele Steine in den Weg gelegt" habe, sieht er Big Dutchman gut gerüstet für die Zeit nach der Pandemie. „Wir sind widerstandsfähig, weil wir schon immer konservativ und sehr vorsichtig agieren und vor allem versuchen, langfristig zu denken. Daran werden wir uns weiterhin orientieren."

Boge, Grimme, Wernsing, Vogelsang, Big Dutchman - die Beispiele großer ­Unternehmen aus dem Oldenburger Münsterland zeigen, dass niemand davor gefeit ist, in eine Krise zu ­geraten. Deutlich wird aber auch, dass es Mittel und Wege gibt, mit solchen Herausforderungen umzugehen. Gemeistert werden sie in der ­Regel von denen, die dem Unerwarteten klug und ­behutsam begegnen und sich den Gegebenheiten anpassen können. Ganz so, wie es auch ­guten Steuermännern im Ruderboot gelingt.