Kunststoffindustrie

Willkommen im Polyethylen Valley

21.06.2021

Das Oldenburger Münsterland ein Zentrum der Kunststoffindustrie? Außerhalb der Branche überrascht das so manchen. Was daran liegen mag, dass es kaum Betriebe mit einer langen Tradition gibt – die Plastik-Ära begann in der Region während des Wirtschaftswunders.

Egal in welchem Supermarkt man einkauft – im Einkaufswagen dürfte meist mehr als eine Verpackung landen, die aus dem Oldenburger Münsterland stammt. Sei es bei den Pommes oder dem Eisbecher aus der Kühltruhe, beim Seifenspender oder der Riesentüte Katzenfutter. Geht es dann mit dem Auto nach Hause, nutzt man vermutlich weitere in der Region gefertigte Produkte, zum Beispiel gewichtssparende Leichtbau-Pedale.

Dass die Fülle an Verpackungen und technischen Teilen aus dem Oldenburger Münsterland unseren Alltag prägt, ist nicht verwunderlich. Rund 100 Unternehmen mit mehr als 6.000 Beschäftigten produzieren und verarbeiten dort Kunststoffe. Allein in Lohne, der Stadt mit gut 26.000 Einwohnern, fertigen etwa zehn Firmen Jahr für Jahr Milliarden an Plastikprodukten: Verpackungen für Lebensmittel sowie für die Pharma- und Kosmetikbranche, technische Folien, Pflanztöpfe für den Gartenbau, Spezialteile für die Autoindustrie und vieles mehr.

Vom Korken zum Kunststoff

Die Verarbeitung von Kunststoffen begann in Lohne in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei Kleinunternehmen wie Bramlage, Henke oder Pöppelmann. Diese Firmen stellten zunächst Korken her, die sie dann mit Griffkappen aus Kunststoff kombinierten. Gefragt waren die praktischen Verschlüsse bei Spirituosen- oder Medizinflaschen, die man mehrmals öffnete. Bei Bramlage wurden sie zunächst aus Bakelit gefertigt, später aus Polystyrol. Bald weiteten die Pioniere die Produktion auf andere Güter aus. In den schnell wachsenden Werken wurden etwa Becher, Griffe oder Schutzkappen zunächst auf halbautomatischen Maschinen produziert. Heute nutzen die Kunststoff-Formgeber, Werkzeugmacher und andere Spezialisten hochmoderne und flexible Fertigungsstraßen.

Aus Kleinunternehmen werden weltweit erfolgreiche Firmen

Henke etwa stellt mit rund 130 Mitarbeitern Verschlüsse und Verpackungen für den Food- und Non-Food-Markt her, außerdem Schutzelemente und technische Teile sowie Produkte für den Gartenbau aus Recycling-Kunststoff. Auch Pöppelmann etablierte in den 1970er Jahren ein Sortiment für Profi-Gärtner. Mittlerweile finden sich bei dem Familienunternehmen aus Lohne allein im Geschäftsbereich für den Erwerbsgartenbau mehr als 600 Posten, von Anzucht-Systemen bis zu individuell bedruckten Töpfen.

Und das Sortiment wird ständig erweitert. Zuletzt kamen etwa Selbstbewässerungssysteme hinzu, bei denen das Wasser über ein Docht oder Vlies zu den Wurzeln gelangt. In weiteren Geschäftsbereichen werden Verpackungen für die Lebensmittel-, Pharma- und Kosmetikindustrie sowie die Medizintechnik, Schutzkappen und Stopfen sowie Spritzgussteile für Fahrzeuge und die Energiebranche gefertigt. Pöppelmann produziert an fünf Standorten mit 550 Spritzgussmaschinen, Tiefziehanlagen und Extrudern. Die Produkte werden in mehr als 90 Ländern vertrieben.

Futter für den Gelben Sack

Angesichts von riesigen Müllstrudeln in den Ozeanen und von rund 25 Millionen Tonnen Kunststoffabfällen, die jährlich allein in Europa anfallen, sind Strategien für weniger Plastikmüll gefragt. „Materialkreisläufe zu schließen ist eine der großen Herausforderungen der Kunststoffindustrie", bekennt Pöppelmann-Geschäftsführer Torsten Ratzmann. Bislang wird in Deutschland trotz Gelbem Sack nur etwa die Hälfte des Kunststoffmülls wiederverwendet. Um die Quote zu erhöhen, hat die Firma aus Lohne eine Verpackung in einer „Recycling Blue" genannten Farbe entwickelt, die bei der Abfallsortierung identifiziert und getrennt gesammelt werden kann. Die alten Verpackungen werden zu Granulat verarbeitet, aus dem wieder neue Produkte entstehen. So wird der Rohstoffkreislauf geschlossen. Das Ziel: Der Kunststoff der Verpackungen soll direkt aus dem Gelben Sack kommen und da auch wieder landen. Das funktioniert auch jenseits des Lebensmittelbereichs. Pflanztöpfe werden bereits komplett aus Recyclingmaterial des Duales Systems Deutschland hergestellt.

Pioniere bei der Wiederverwertung

Wiederverwertung ist auch bei Nordfolien Thema: Jährlich kann das Unternehmen rund 60.000 Tonnen Industrie- und Konsumverpackungen produzieren, die Recyclingkapazität mit einem patentieren Verfahren liegt bei etwa 15.000 Tonnen. Bereits seit den 1970er Jahren bereitet man in Steinfeld Folienabfälle wieder auf. Produziert werden etwa wasserdichte Polyethylen-Säcke für Zement. Deren Clou ist eine Labyrinth-Struktur im Kunststoff, der Luft entweichen, aber nicht wieder eindringen lässt.

Wie mit Nordfolien in Steinfeld wurde in den 1960er Jahren mit delo auch in Lohne ein Hersteller von Folien gegründet. Dort extrudieren, bedrucken, kaschieren und konfektionieren heute über 300 Mitarbeiter pro Jahr mehr als 600 Millionen Laufmeter an flexiblen Verpackungen für Lebensmittel, Hygieneprodukte oder Haushaltswaren. Das moderne Werk verfügt nach eigenen Angaben über die größte Flexodruckerei in Europa.

Experten für energiesparenden Leichtbau

Polyethylen, Polystyrol und Co. prägen die Region über Lohne hinaus. Der Automobilzulieferer Boge Rubber & Plastics hat seine Konzernzentrale in Damme. Mit einem Umsatz von knapp 830 Millionen Euro im Jahr 2017 zählt das weltweit tätige Unternehmen zu den Branchengrößen in der Region. Dort wurde zuletzt viel in die Entwicklung von Fußpedalen aus Kunststoff investiert, die etwa bei VW zum Einsatz kommen. Neuheiten sind auch eine elastomerische Gelenkkupplung, die rund ein Viertel weniger als herkömmliche Gummi-Metall-Konstruktionen wiegt und komplett recycelbar ist. Geringes Gewicht ist auch beim Motorlager oder den Gehäusen für Airbags von Boge Rubber & Plastics gefragt. Denn Kunststoffe haben nicht nur durch mehr Recycling ein großes Potential für eine umweltfreundlichere Produktion – über den damit möglichen Leichtbau können Plastikteile auch helfen, den Spritverbrauch der Fahrzeugflotten zu senken.